Eishaut: Ein Ólafur Davídsson Roman

Im Kölner Dom wird ein Bundestagsabgeordneter ermordet. Die Tatwaffe ist die Petersglocke. Die Partei des Opfers ist zerstritten und der Abgeordnete wird dafür verantwortlich gemacht. Ist die politische Gesinnung oder seine Verstrickung mit dem religiösen Parteiflügel das Motiv für die grausame Tat?

Der Präsident des Verfassungsschutzes wird wegen seiner Nähe zum religiösen Parteiflügel abgesetzt und drei weitere Bundestagsabgeordnete werden nacheinander hingerichtet. Alle haben ein dunkles Geheimnis. Gibt es hier einen Zusammenhang?

Die Ermittlungen führen Ólafur Davídsson in das Herz der Demokratie – in den Deutschen Bundestag. Hinweise am Tatort deuten plötzlich auf ein religiöses Motiv und der Fallanalytiker steht vor der Wahl: Soll er seine Karriere aufs Spiel setzen, um den Fall zu lösen?

Darum geht es

Ólafur Davídsson arbeitet bei seinem dritten Fall mit der außergewöhnlichsten Polizei Deutschlands zusammen - der Bundestagspolizei.

Ein konservativer Bundestagsabgeordneter, der als ausländerfeindlich gilt, wird grausam im Kölner Dom hingerichtet. Will der Mörder ihn dafür bestrafen? Die Schwester sieht das Opfer jedoch in einem völlig anderen Licht und beschreibt ihren Bruder als guten Menschen, der vor allem durch die Partei zu radikaleren Äußerungen gedrängt worden sein soll. Die Partei des Opfers wird beim Bundesamt für Verfassungsschutz als Prüffall eingestuft und eine Splittergruppe, die sich "Orthodoxe in der AfD" nennt, wird sogar zum Verdachtssfall. Doch auch der Präsident des Verfassungsschutzes spielt eine Rolle bei der Partei, die ihn schließlich sogar seinen Job kostet.

Als wenig später eine langjährige Bundestagsabgeordnete der SPD in einer fast vergessenen Hamburger Kirche ermordet aufgefunden wird, nimmt der Erfolgsdruck auf Davídsson weiter zu. Das Bundesinnenministerium schaltet sich selbst in die Ermittlungen ein - ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auch die Parteien nehmen die Ermittlungsbehörden in die Pflicht. Ólafur Davídsson muss vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages Rede und Antwort stehen, während sich auch die Presse auf den Fall stürzt und seine Ermittlungen durch parlamentarische Anfragen und Medienberichte verzögert werden.

Bundestagsabgeordnete vertreten das deutsche Volk - so steht es seit 1916 am Hauptportal des Reichstagsgebäudes in Berlin. Hinter dieser Botschaft vermutet der Fallanalytiker schließlich das Motiv des Täters. Doch auch der Tatort könnte eine Rolle spielen, denn es handelt sich dabei immer um eine Kirche. Der Fallanalytiker verfolgt diese Spur bis es einen weiteren Mord gibt.

Der Tatort liegt dieses Mal jedoch nicht in einer Kirche, sondern mitten auf einer Hauptverkehrsstraße in Stuttgart. Zwei junge Bundestagsabgeordnete der Gründen und der FDP wurden nackt auf einem Kunstwerk aufgespießt und Davídsson ist wieder am Anfang seiner Ermittlungen. Zwischenzeitlich stammen die Opfer fast aus jeder Bundestagsfraktion und eines scheint klar zu sein - die Wut des Mörders richtet sich nicht gegen eine bestimmte politische Ansicht, sondern gegen das ganze politische System - die Grundfesten der Demokratie. Erst ein kleines Detail führt ihn auf die Spur eines fanatischen Mörders und ein Motiv, das alle Fäden zusammenführt.

»Ein brillanter und radikaler Blick hinter die Kulissen der Politik ...«

Obwohl sich dieser Thriller teilweise an wahren Begebenheiten orientiert, sind Namen und Handlungen frei erfunden.

Leseprobe

Der Wind war eisig.

Es war nicht jene angenehm kühle Brise, die man in heißen Sommermonaten hinter den dicken Gemäuern suchte.

Diese Kälte war gleichbedeutend mit Leere.

Obwohl zwischenzeitlich gut zwanzig Personen - die meisten davon in Uniform - auf den gleichen Punkt vor ihnen starrten, als seien sie von einer unsichtbaren Kraft betäubt worden, war es im Glockenstuhl des Kölner Doms leer.

Das Menschliche war abwesend.

Ólafur Davídsson sah die Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern. Es war eine Mischung aus Ekel, Angst und Neugierde, die den Blick auf den Punkt vor ihnen fixierte. Ein Anblick, der sich binnen Sekunden für immer eingebrannt hatte und auf den jeder gerne verzichtet hätte.

Selbst Davídsson konnte sich nicht daran erinnern, so einen Tatort jemals zu Gesicht bekommen zu haben.

Die Petersglocke, die im Volksmund nur dicker Pitter genannt wurde, dominierte den hohen steinernen Raum. Sie hatte eine leicht grünliche Patina, die von weißem Licht aus eilig aufgestellten LED-Scheinwerfern angestrahlt wurde.

Eine Mischung aus Kleiderfetzen, Blut und Teilen des menschlichen Körpers hatte sich überall verteilt. Feine Blutspritzer hatten sich bis an den Stahlträger und die riesigen Antriebsräder links und rechts von der Aufhängung verteilt.

Es würde Wochen dauern, bis sie alle forensisch erfasst, in Fotografien festgehalten und schließlich von Tatortreinigern beseitigt wären.

Die Spurensicherung beschäftigte sich seit Davídssons Ankunft mit den Körperresten, die sich noch am Klöppel befanden. Der männliche Torso war mit Seilen am glänzenden Metall des Klöppels verschnürt worden. Über dem Brustkorb kreuzten sich die Seile, so dass er an Ort und Stelle geblieben war, als die Glocke zu schwingen begonnen hatte. Bevor ein Glockenschlag ertönte, musste eine Glocke dieser Größe mit Sicherheit einige Male hin und her bewegt werden, bis der Klöppel auf das dickwandige Gusseisen stieß und den ersten Klang erzeugte.

Der Brustkorb war vermutlich schon bei diesem ersten Schlag völlig zerschmettert worden.

Davídsson hoffte für das Opfer, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen war.

Der grauhaarige Mann, der neben ihm vor einem Eisengeländer stand, war bei seiner Ankunft beinahe über einen Infostand gestolpert, auf dem Davídsson gelesen hatte, dass der Klöppel gut dreieinhalb Meter lang war und rund 600 Kilogramm wog.

Wenn das Opfer noch gelebt hatte, als die Glocke zu schwingen begann, war der Klöppel die Mordwaffe. Er war nach einem Bruch erst vor ein paar Jahren wieder neu eingesetzt worden und glänzte deshalb noch, während die Patina der Glocke rau und matt wirkte.

Auf den Holzdielen, über denen die Petersglocke hing, waren die Kollegen von der Spurensicherung und ein Fotograf mit der Aufnahme des Tatortes beschäftigt. Alle anderen Anwesenden waren hinter der Absperrung geblieben, die die Besucher des Südturms von den verschiedenen Glocken, die hier hingen, fernhalten sollten.

Davídssons Blick wanderte zu den gotischen Spitzbögen über ihnen. Sie fingen jetzt den warmen Atem der Anwesenden auf, als seien sie hungrig danach. Die Luft war trocken. Es roch nach jahrhundertealtem Staub und Holz.

Der Mann neben ihm hatte seinen Namen gemurmelt, als er von Ólafur Davídsson aufgefangen worden war, aber Davídsson hatte ihn nicht verstanden. Er hatte nur ein "von" gehört, aber den Rest nicht.

"Von welcher Dienststelle sind Sie?", fragte der Grauhaarige jetzt und zeigte dabei seinen Dienstausweis.

Raimo von Böhmer, Bundestagspolizei, las Davídsson und antwortete: "Ólafur Davídsson, Bundeskriminalamt."

"Sie sind der Profiler?"

"Fallanalytiker - ja."

Für einen Moment schien alles gesagt worden zu sein, was an diesem Ort und mit diesem Anblick auszusprechen war.

Davídsson war namentlich von Wolfram Scheible angefordert worden.

Vor seinem Amt als Bundestagspräsident, immerhin das zweithöchste Staatsamt in Deutschland, war Scheible Bundesinnenminister und damit oberster Dienstherr des Bundeskriminalamtes gewesen. Ólafur Davídsson konnte sich jedoch nicht erinnern, ihm jemals persönlich begegnet zu sein.

Hans-Jürgen Wittkampf, Davídssons Chef bei der operativen Fallanalyse, hatte Davídsson etwa zwei Stunden zuvor aus einer Besprechung in der Dienststelle des Bundeskriminalamtes in Meckenheim geklingelt und ihm mit kurzen Worten mitgeteilt, dass er sofort nach Köln fahren solle, um sich dort einem Ermittlerteam in einem Mordfall anzuschließen. Er sei namentlich angefordert worden und von allen anderen Aufgaben mit sofortiger Wirkung entbunden. Davídsson war erst während der Fahrt nach Köln richtig bewusst geworden, wie ungewöhnlich dieser Anruf war.

Wittkampf war noch fahriger als sonst gewesen. Der Ort, zu dem er geschickt wurde, hatte Davídsson irritiert und die Tatsache, dass er für die Bundestagspolizei tätig werden sollte, war mindestens genauso irritierend.

Die meisten Menschen wussten nicht einmal, dass der Bundestag eine eigene Polizei hatte. Noch weniger wussten vermutlich, dass die Bundestagspolizei keine eigenen Polizisten ausbildete, sondern Kolleginnen und Kollegen von den anderen deutschen Sicherheitsbehörden abwarb - mit Vorliebe von der Bundespolizei und vom Bundeskriminalamt.

"Das Opfer ist Bundestagsabgeordneter", hatte Wittkampf fast ins Telefon gebrüllt, bevor er aufgelegt hatte, ohne sich zu verabschieden.

Davídsson fragte sich jetzt, nachdem er den Tatort und die Leiche gesehen hatte, wie man das herausgefunden hatte. Die menschlichen Reste waren jedenfalls nicht mehr zur Identifizierung geeignet. Der Schädel des Opfers war bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert worden. Davídsson konnte nicht einmal mehr erkennen, ob das Opfer rücklings am Klöppel hing oder mit dem Gesicht nach vorne. Die Haare klebten in einer blutigen Masse am Metall, ohne dass man das erkennen konnte.

"Bernd Höbel, AfD. Die Kollegen von der Landespolizei haben da drüben", er zeigte auf das gegenüberliegende Fenster, hinter dem man in der Dunkelheit schemenhaft den Nordturm des Doms erkenenn konnte, "seine Brieftasche gefunden, und darin steckte ein Abgeordnetenausweis", sagte von Böhmer, als ob er Davídssons Gedankengang gehört hätte.

"Ich habe Sie angefordert, weil es eine Inschrift auf der Glocke gibt, die vermutlich vom Täter stammt und die ich nicht verstehe." Von Böhmer bewegte sich an den Polizisten vorbei, die noch immer die Tatortarbeiten der Spurensicherung beobachteten.

Er blieb schließlich am Motor der linken Aufhängung stehen. Von den Antriebsmotoren führten zwei schmale Metallketten zu den beiden riesigen Rädern über ihren Köpfen, die den Stahlträger in Bewegung versetzten, an dem wiederum der dicke Pitter verankert war.

"Die Petersglocke hat eine eigene Inschrift, aber über ihr hat jemand etwas eingeritzt. Die Kratzer sind frisch. Sie sind bisher keinem aufgefallen und sie könnten mit diesem Tötungsdelikt zusammenhängen."

Ólafur Davídsson versuchte die Stelle mit dem bloßen Auge zu erkennen, sah aber nur die Glockeninschrift:

St. Peter bin ich genannt

schütze das deutsche Land.

Geboren aus deutschem Leid

ruf ich zur Einigkeit.

Von Böhmer schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben, konnte die Stelle jedoch offenbar ebenfalls mit bloßem Auge nicht erkennen.

"Der Fotograf hat hochauflösende Digitalfotos davon gemacht. Darauf lassen sich die Kratzer erkennen. Kommen Sie gleich mit zur Besprechung ins Polizeipräsidium."

Davídsson nickte und dachte an die schmale Wendeltreppe, über die alle Anwesenden gekommen waren. 53 Meter unter ihnen war das fast 12 Meter dicke Turmfundament durchbrochen worden, um einer halben Million Besuchern jährlich einen direkten Zugang zum Südturm zu ermöglichen. Vor dem Durchbruch im Jahr 2009 mussten alle Besucher durch das Kirchenschiff und hatten so die Gläubigen beim Gottesdienst gestört.

Der oder die Täter müssen - wie das Opfer auch - die gesamten 260 Treppenstufen überwunden haben, um hierher zu gelangen, dachte Davídsson.

Wie bringt man jemanden dazu, freiwillig zu seiner eigenen Hinrichtungsstätte zu gehen?, fragte er sich leise und notierte diese Frage zugleich in seinem Gedächtnis.

Das Polizeipräsidium lag auf der anderen Rheinseite - der Schäl Sick, wie ihm ein uniformierter Kollege in breitem rheinischem Dialekt erklärte. Der Mann mit dem gezwirbelten Bart kam dem Stereotypen eines Kölner Urgesteins freiwillig oder unfreiwillig nahe. Die ganze Erscheinung schien jedenfalls an jeder Karnevalssession teilzunehmen, die ihm zwischen dem 11. November und Aschermittwoch in Köln geboten wurde.

Das war nicht Davídssons Welt. Dafür floss zu viel Wikingerblut in seinen Adern.

Das Polizeipräsidium war ein zweckmäßiger Neubau, der 2001 mit großem Tamtam eröffnet und zwischenzeitlich bereits um weitere Bauabschnitte erweitert worden war. Der Landesrechnungshof von Nordrhein-Westfalen hatte die hohen Mehrkosten medienwirksam angeprangert, was unter anderem dazu geführt hatte, dass man den Neubau der Liegenschaft des Bundeskriminalamtes in Treptow, in dem sich Davídssons Büro befunden hätte, noch einmal auf den Prüfstand gestellt hatte. Bisher hatte man deshalb nur einen Teil des Bauvorhabens umgesetzt und den Rest auf Eis gelegt.

Raimo von Böhmer hatte die Besprechung in der gläsernen Konferenzkanzel des neingeschossigen quadratischen Turms begonnen, ohne sich vorzustellen.

In dem Raum saßen jetzt rund zehn Personen mehr, als sich noch vor etwa einer halben Stunde im Glockenstuhl des Kölner Doms befunden hatten. Allerdings hatte sich das Ranggefüge deutlich erhöht. Ein Leitender Polizeidirektor war mit goldenem Sternen und Eichenlaub auf den Schulterklappen erkennbar der höchste Vertreter der Landespolizei. Er blickte etwas missmutig, weil er, obwohl Hausherr, die Besprechung nicht eröffnen durfte.

"Es ist nun einmal so, dass mich der Bundestagspräsident gebeten hat, in diesem Einzelfall selbst die Ermittlungen zu leiten. Selbstverständlich fehlt der Bundestagspolizei für eine Mordermittlung die fachliche Expertise für die Aufklärung eines derartigen Falls. Dennoch legt der Bundestagspräsident Wert darauf, dass die Leitung in meinen Händen liegt. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 wurde noch nie ein Bundestagsabgeordneter während der Mandatsausübung ermordet."

Von Böhmer warf einen kurzen Blick auf den Leitenden Polizeidirektor, der nickte, den Blick dann aber abwandte und aus den großen Fenstern blickte.

"Uwe Barschel war Landtagsabgeordneter", ergänzte von Böhmer, obwohl ihm keiner widersprochen hatte. "Wir betreten also völliges Neuland, um es mal mit den Worten der Kanzlerin zu sagen. Ich habe daher einen Experten vom Bundeskriminalamt angefordert. Herr Davídsson ist Profiler. Wir benötigen außerdem die Unterstützung des Landeskriminalamtes. Die Kollegen sind noch vor Ort bei der Spurensicherung, aber ich möchte Ihnen den Leiter vorstellen, das ist Herr Menz."

Das kölnische Urgestein erhob sich kurz und nickte in die Runde.

"Und wir benötigen die erfahrenen Mordermittler des Landeskriminalamtes, die sich gerne gleich selbst vorstellen können." Von Böhmer sah in die Runde, bevor er nach einer kurzen Pause ergänzte: "Die Kollegen vom Polizeipräsidium Köln habe ich völlig vergessen, obwohl sie natürlich die Absicherung des Tatortes übernehmen und uns selbstverständlich mit ihrer Arbeit auch den Rücken freihalten. Vielen Dank an dieser Stelle nochmals an den werten Herrn Leitenden Polizeidirektor Hammerl, der uns auch diesen Raum zur Verfügung gestellt hat."

Der Mann mit dem Lametta auf den Schultern zeigte keinerlei Reaktion auf die unglücklich formulierte Aufgabenverteilung, die seiner Dienststelle nur eine kleine Nebenrolle zugedachte.

"Wer nicht unmittelbar an dem Fall mitwirkt, möge bitte jetzt den Raum verlassen. Je kleiner der Kreis, der die internen Ermittlungsdetails kennt, desto kleiner auch der Kreis an Informanten für die Presse", sagte von Böhmer, dem offenbar nicht bewusst war, dass er damit unterstellte, dass die Kollegen bei der erstbesten Gelegenheit Interna ausplaudern würden.

Entsprechend missmutig waren die Gesichter derjenigen, die die Konferenzkanzel wort- und grußlos verließen. Allen voran der Leitende Polizeidirektor, der jedoch keine Handhabe hatte, sich über das Verhalten von Böhmers zu beschweren. Die Polizei des Deutschen Bundestages unterstand unmittelbar dem Bundestagspräsidenten, und der würde sich nicht mit einem Leitenden Polizeidirektor aus Köln über derartige Beschwerden unterhalten.

Das war auch einem Leitenden Polizeidirektor klar.

Im Raum verblieb schließlich eine Handvoll verstreut sitzender Personen.

Auch die wenigen Anwesenden werden nicht verhindern, dass der Fall in den Schlagzeilen landet, dachte Davídsson.

"Gut. Bei Bernd Höbel handelt es sich um einen Bundestagsabgeordneten, der bei der letzten Bundestagswahl ein Direktmandat im Wahlkreis 159, also in Dresden I, erzielen konnte und für die AfD im Bundestag sitzt. Er ist Obmann der AfD im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Ich muss Ihnen weder erklären, dass die Partei polarisiert, weil sie mindestens - na, sagen wir mal - rechtspopulistische Züge aufweist, noch muss ich Ihnen erzählen, dass die AfD gerade quasi um die Ecke einen Bundesparteitag im Maritim-Hotel abhält. Sie haben alle in den Medien gelesen, wie kontrovers diskutiert wurde, dass das Hotel an die Partei vermietet hat. Von einer Herberge für Rechtspopulisten ist da unter anderem die Rede."

Von Böhmer legte eine kurze Pause ein.

"Nun die Details, die - ich habe es ja schon angedeutet - den Raum nicht verlassen. In den Medien wurde nämlich nicht darüber berichtet, dass das Hotelmanagement in den vergangenen Tagen mehrere Morddrohungen erhalten hat, weil es die Veranstaltung zuerst erlaubt und dann auch die Stornierung abgelehnt hatte. Besonders sensibel ist wohl aber, dass die Partei über den Ausschluss des Abgeordneten Höbel diskutieren will, während er selbst Hausverbot auf dem Parteitag hat. Innerhalb der AfD ist er wegen seiner polemisierenden Haltung umstritten." Er blätterte in seinen Unterlagen, bevor er weiterredete: "Sie können sich also jetzt vielleicht vorstellen, weshalb unsere Ermittlungen so hochsensibel sind und weshalb wir schnelle und gute Ergebnisse liefern müssen, bevor die Sache völlig eskaliert."

"Was wissen wir über Höbel als Privatperson?"

"Vermuten Sie einen privaten Hintergrund?" Von Böhmer erwiderte Davídssons Frage mit einer Gegenfrage.

"Der Mord an Bernd Höbel ist ein klassischer Fall von Übertötung. Wenn eine Tat mit solcher Brutalität ausgeführt wird, kann wohl kaum ausgeschlossen werden, dass es einen persönlichen Hintergrund gibt", erklärte Davídsson und bemerkte, dass die anderen seinen Gedankengang nicht so entschieden ablehnten, wie es von Böhmer offensichtlich tat.

Von Böhmer blätterte wieder in seinen Unterlagen.

"Bernd Höbel. Geboren am 2. Mai 1973 in Bremerhaven. Katholisch. Nicht verheiratet. Keine Kinder. 1992 Abitur in Bremen am Schulzentrum Huchting. Nach dem Abitur Grundwehrdienst bei der Bundeswehr. Von 1993 bis 1999 Studium an der Universität Bremen, Sportwissenschaften und Geschichtswissenschaft für das Lehramt am Gymnasium. Nach seinem zweiten Staatsexamen 2002 absolvierte er von 2004 bis 2006 einen Masterstudiengang für Schulmanagement, den er mit dem Master of Arts abschloss. 2016 dann der Umzug nach Dresden. Seither ist Höbel Mitglied der Ortsgruppe Nordost in Dresden und stellvertretender Ortsbeirat im Ortsbeirat Dresden-Blasewitz. Bis zur Bundestagswahl unterrichtete er am Julius-Ambrosius-Hülße-Gymnasium Sport und Geschichte, zuletzt als Oberstudienrat."

Von Böhmer blickte kurz von seinen Notizen auf.

"Soweit die Informationen von seinem Abgeordnetenprofil auf der Homepage des Deutschen Bundestages. Außerdem ist wohl allgemein bekannt, dass das sächsische Kultusministerium 2018 vergeblich versucht hat, Höbel über ein Disziplinarverfahren aus dem Lehrerdienst zu entlassen. Das Oberverwaltungsgericht in Bautzen hat die Entlassung aus dem Staatsdienst abgelehnt, weil Höbel seine rechte Ideologie nicht als Oberstudienrat vertreten hatte, sondern als Bundestagsabgeordneter. Mehr weiß ich nicht über ihn als Privatperson. Sein Privatleben wird in den Medien nicht sonderlich beachtet. Sie konzentrieren sich eher auf ihn als Scharfmacher. Bei solchen Leuten bleibt der Glamour-Faktor aus."

Die Männer lachten müde.

Davídsson fiel auf, dass es keine Getränke auf den Tischen gab, und er hatte auch keinen Kaffeeautomaten gesehen, an dem er sich jetzt gerne einen Becher gezogen hätte. Obwohl das schwarze Wasser sicherlich nicht schmecken würde, machte es wach.

"Was ist mit seinen Verbindungsdaten?" Die Frage stellte einer der Ermittler vom Landeskriminalamt.

"Jede Maßnahme, die geeignet sein könnte, die Freiheit des Abgeordneten einzuschränken, ist nach Artikel 46 Grundgesetz verboten." Von Böhmer betonte jedes Wort einzeln, während er den Kollegen vom Landeskriminalamt ansah, als habe er einen völlig abwegigen Vorschlag gemacht. "Nichts, aber auch gar nichts, was die Unabhängigkeit des Parlaments infrage stellen könnte, ist erlaubt. Bundestagsabgeordnete sind unsere Götter, ob uns das gefällt oder nicht und ob sie uns symphytisch sind oder nicht."

Ein Kollege hatte Ólafur Davídsson tatsächlich vor Kurzem erzählt, dass sich die Bundestagsverwaltung seit Jahren weigerte, die Sicherheitsvorgaben des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik anzuwenden, weil die Behörde dem Bundesinnenministerium unterstellt war und die Abgeordneten deshalb um ihre Unabhängigkeit fürchteten.

Vor einigen Wochen waren dann aber die Server des Bundestages für mehrere Tage durch einen Hackerangriff lahmgelegt worden, weil der eigene Schutz versagt hatte.

"Diese Scheiß-Pseudo-Unabhängigkeit hat jetzt zu einem höheren Datenabfluss geführt, als wenn ein paar Beamte des Bundesamtes gewusst hätten, welche Spiele die Abgeordneten so auf ihren Computern spielten. Mit dem kleinen Unterschied, dass die Daten jetzt nicht bei einer Bundesbehörde, sondern beim Auslandsnachrichtendienst der Russen liegen", hatte der Kollege süffisant grinsend erzählt.

"Und wie sollen wir dann ermitteln?", fragte der Kollege vom Landeskriminalamt.

Die Frage blieb unbeantwortet. Von Böhmer sah stattdessen in Davídssons Richtung.

"Kennen wir einen Zusammenhang zwischen Opfer und Tatort?", fragte Davídsson daraufhin.

Von Böhmer lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Das wissen wir noch nicht." Und nach einer kurzen Pause: "Gibt es sonst irgendwelche Ermittlungsansätze?"

Der Mann mit dem Zwirbelbart meldete sich.

"Meine Mitarbeiter führen heute Nacht mit einem 3-D-Laserscanner eine photogrammetrische Vermessung vom Glockenstuhl durch. Die digitale HDR-Spezialkamera zeichnet in alle Richtungen in einem Winkel von 360 Grad horizontal und 180 vertikal vollsphärische Bilder auf, so dass am Ende eine fotorealistische Dokumentation des Tatortes vorliegen wird. Die ganzen anderen technischen Details erspare ich Ihnen, aber ich denke, mit der Tatortvermessung werden Sie arbeiten können."

"Ich habe noch ein paar Infos zum Tatort, die man wissen muss, um die Tat besser einzuordnen."

Einer der Mordermittler vom Landeskriminalamt legte die Hände parallel vor sich auf den Konferenztisch und sah sie an, während er weiterredete: "Der dicke Pitter läutet nur zu bestimmten festen Anlässen im Jahr. Insgesamt wird die Glocke an 19 Tagen 23 Mal geläutet. Zusätzlich wird sie 30 Minuten geläutet, wenn der Papst oder der Erzbischof stirbt, und 15 Minuten täglich bis zur Beisetzung der beiden Herren. 1984 wurde eine elektrische Lichtschranke eingebaut, die die beiden Motoren abschaltet, sobald ein bestimmter Läutwinkel überschritten wird. Mit dem Austausch des Klöppels wurde außerdem die Geschwindigkeit der Motoren auf 500 Umdrehungen pro Minute gedrosselt, weil der neue Klöppel deutlich leichter ist als der alte, der mit 750 Umdrehungen in der Minute bewegt wurde."

Der Mann sah sich kurz um, als wollte er prüfen, ob die anderen Anwesenden seinen Ausführungen folgten.

"Die Petersglocke hat heute um 19:30 Uhr Allerheiligen eingeläutet. Dabei läutet die Glocke zunächst zehn Minuten allein und dann zusammen mit den übrigen Glocken im Südturm. Vielleicht ist noch erwähnenswert, dass der dicke Pitter zuvor mehrere Monate nicht geläutet wurde - zuletzt nämlich am 29. Juni zu Peter und Paul, wohingegen der nächste Termin schon morgen um 9:35 Uhr wegen Allerheiligen wäre. Der Polizeipräsident hat bereits beim Erzbischof von Köln darum ersucht, dass morgen keine der Glocken im Südturm läuten wird, um die Spurensicherung nicht zu behindern."

Ólafur Davídsson sah auf seine Uhr. Bis zum nächsten Glockenschlag wären es noch gut neun Stunden. Es war kurz nach Mitternacht.

"Ersucht?", fragte von Böhmer.

"Artikel 4 Absatz 1 und 2 Grundgesetz. Wenn Sie hier mit den ganz großen Schlachtrössern argumentieren, können wir Rheinländer das schon lange. Die ungestörte Religionsausübung ist nämlich mindestens genau so wichtig wie Ihre Immunität der Bundestagsabgeordneten", antwortete der Beamte unbeeindruckt.

"Und, hat er dem Ersuchen stattgegeben?"

"Hat er, aber er kann das nicht alleine entscheiden, denn der Kölner Dom gehört nicht dem Erbischof von Köln, wie man vielleicht meinen könnte, und er gehört auch nicht der katholischen Kirche, sondern er gehört sich selbst."

"Der Kölner Dom gehört sich selbst?"

"Ja. Das Eigentum wird deshalb auch von den 112 Mitgliedern des Domkapitels verwaltet und nicht vom Erzbischof ,und deshalb musste das Domkapitel als Gremium ebenfalls beteiligt werden. Weil das so kurzfristig aber nicht möglich war, hat der Dompropst als Leiter des Domkapitels zugestimmt."

"War der Südturm heute für Besucher geöffnet?", fragte einer der anderen.

"Nein, die Besucherplattform war heute geschlossen."

"Der stellvertretende Dombaumeister war wegen einer Reparatur im Dom. Als die Glocke schlug, hat er bemerkt, dass sich das Glockenspiel nicht wie gewohnt anhörte, und hat nachgesehen. Den Rest können Sie sich denken. Er steht unter Schock und wird wohl heute Nacht im Krankenhaus bleiben", ergänzte von Böhmer.

"Wo wohnt Höbel in Köln und warum ist er hier, wenn er nicht auf den Parteitag kann?", fragte jetzt der Mordermittler, der die Informationen über den Dom vorgetragen hatte.

"Er wohnt in einem Hotel in Bonn. Hier gibt es kaum noch verfügbare Zimmer wegen der Messe und dem Parteitag", antwortete von Böhmer. "Was er hier wollte, weiß ich nicht. Das mit dem Hotelzimmer weiß ich von seinem Abgeordnetenbüro, aber die wollten mir nicht sagen, weshalb er hier war."

Die Anwesenden schwiegen.

"Das mit der Lichtschranke beschäftigt mich", stellte der Mann vom Landeskriminalamt fest. Immer wenn er sprach, hörte es sich so an, als würde er dabei auf einem Bonbon herumlutschen, das viel zu groß für seinen Mund war. "Hätte die Lichtschranke nicht reagieren müssen, als Höbel an dem Klöppel festgeschnürt wurde?"

"Das wird von meinen Technikern noch untersucht, aber so, wie ich es verstanden habe, sind die Lichtschranken weiter oben im Glockenstuhl angebracht und regulieren nur die Antriebsmotoren, wenn die Glocke zu weit ausschwingt. Ich habe keine Ahnung, wie viel der werte Herr Abgeordnete gewogen hat, als er dort befestigt wurde, aber ich denke nicht, dass sein Gewicht Auswirkungen auf den Läutwinkel gehabt hat."

"In die Glocke wurde wohl erst vor Kurzem etwas eingeritzt: II2015V519. Dem stellvertretenden Dombaumeister waren die Kratzer jedenfalls zuvor nicht aufgefallen. Offensichtlich sind sie auch nach der Spurenlage erst vor Kurzem in das Metall gekratzt worden, weshalb wir zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass sie mit der Tat im Zusammenhang stehen und möglicherweise von dem oder den Tätern stammten." Von Böhmer legte eine Notiz zur Seite. "Allerdings wissen wir im Augenblick noch nicht, ob es sich um eine Kombination aus arabischen Zahlen und Buchstaben oder römischen Ziffern handelt und was das Ganze bedeutet."

"Gibt es da oben Kameras?", fragte Davídsson.

"Außer denen von uns gibt es leider keine", antwortete Menz.

Über Alexander Guzewicz

Alexander Guzewicz ist in der Nähe von Heidelberg aufgewachsen und hat dort eine juristische Ausbildung beim Land Baden-Württemberg absolviert. Er hat schon sehr früh, im Alter von fünfzehn Jahren, mit dem Schreiben begonnen. Alexander Guzewicz lebt und arbeitet heute in Berlin.

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