Herbstwald: Ein Ólafur Davídsson Roman

Eine junge Frau ist in der ältesten Sozialsiedlung der Welt ermordet worden. Zunächst spricht alles für einen schockierenden Ritualmord: Der Kopf des Opfers wurde kahl geschoren und die Haare in einer Plastiktüte über den Kopf gezogen. Ólafur Davídsson bricht widerwillig seinen Urlaub in Südfrankreich ab, um den Fall zu übernehmen.

Das Motiv für die Tat bleibt lange Zeit im Dunkeln. Als Davídsson vermutet, dass der Mord aus Rache begangen wurde, fehlen ihm die Beweise. Nicht nur bei dem sonst so ruhigen Fallanalytiker liegen daher die Nerven blank.

Schließlich wird der Hund des Opfers mit Drogen vollgepumpt aus der Lech gezogen und plötzlich stellt sich die Frage: Wer war die junge Frau? War sie drogensüchtig? In der Wohnung findet sich für beides keine Hinweise und die Bewohner der Fuggerei wissen angeblich nicht viel über ihre Nachbarin.

Plötzlich führt die Spur zum bayerischen Innenminister und zur japanischen Mafia.

Darum geht es

Ólafur Davídsson ist in der französischen Provence im Urlaub und lässt nebenbei seine Citroën DS neu lackieren. Er ist wenig begeistert, als sein Chef ihn - zusammen mit einer anderen Fallanalytikerin - nach Augsburg beordert, um an der Aufklärung eines Mordfalls mitzuwirken, bei dem es zunächst nichts Außergewöhnliches gibt. Lilian Landhauser ist auf Kriminalfälle mit sexuellen Motiven spezialisiert und sehr von sich eingenommen. Davídsson und Landhauser haben deshalb noch nie zusammengearbeitet und Davídsson würde es gerne auch dabei belassen, zumal es bei dem Mord ganz offensichtlich keinen Bezug zu sexueller Gewalt gibt.

Das Opfer ist eine jungen Frau, der die Haare vom Kopf rasiert und anschließend mit einem Plastikbeutel erstickt wurde. Die bayerische Polizei sieht darin Anzeichen für eine politisch motivierte Tat und bittet deshalb die Operative Fallanalyse des Bundeskriminalamtes um Mithilfe.

Davídsson ist von diesem Ermittlungsansatz wenig überzeugt. Er vermutet eher einen Zusammenhang mit dem Fundort. Das Opfer wurde in der Fuggerei ermordet - der ältesten Sozialbausiedlung der Welt. Die Bewohnerinnen und Bewohnern müssen monatlich an eine Stiftung 88 Cent Miete zahlen und täglich drei Gebete für den Stifter Jakob Fugger, den Reichen, sprechen. Aber was hat eine so junge Frau in diesem anachronistischen Umfeld zu suchen?

Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass sie mit Kokain vollgestopft war, als sie starb. Führte die junge Frau ein Doppelleben in der Fuggerei? Sind die Drogen das Motiv? Der Fallanalytiker untersucht eine andere Spur, die ihn zum bayrischen Innenminister führt.

»Atmosphärische Spannung bis zum (bitteren) Schluss ...«

Leseprobe

Ólafur Davídsson war noch müde. Er wusste, dass er noch nicht genügend Aufmerksamkeit für einen neuen Fall aufbringen konnte, aber Landhäuser und die Kollegen von der Kripo konnten das offenbar. Er konnte kaum die Augen offen halten, nachdem er so lange gefahren war, bis ihm der Fuß eingeschlafen war und der Hintern wehtat. Dann hatte er ein paar Minuten auf einem Rastplatz die Augen geschlossen und gedöst, um anschließend den zweiten Teil der Strecke hinter sich zu bringen.

Erst am frühen Morgen war er schließlich in Augsburg eingetroffen, hatte beinahe schon im Halbschlaf seine Sachen in das für ihn reservierte Hotelzimmer gebracht, geduscht und sich dann in das weiche Bett gelegt. Dort hatte er sich dann vier Stunden hin-und hergewälzt, bevor er wieder aufstehen musste.

Landhäuser war von Berlin nach München geflogen und hatte den Rest der Strecke mit der Bahn zurückgelegt. Sie schien vor unbändiger Energie zu sprühen und hatte bereits erste Nachforschungen über die Fuggerei angestellt, die sie alle in einen Collegeblock geschrieben hatte.

Davídsson ließ sie links liegen, nachdem er sie kurz begrüßt hatte.

Er wollte sich sein eigenes Bild machen und dabei unbeeinflusst von anderen Wahrnehmungen bleiben. Vielleicht auch, weil er keine Lust auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit seiner Kollegin hatte.

Gerade, als er zur Kasse gehen wollte, die sich hinter einem Fenster verbarg und auf die ein paar weiße Pfeile auf dem Boden zeigten, erschienen die Kollegen der Kriminalpolizei. Obwohl sie keine Uniformen trugen, war es ihnen sofort anzusehen, wer sie waren.

Der Freund und Helfer muss auch außerhalb des Dienstes erkennbar bleiben, dachte Davídsson zynisch. Er machte kehrt und stellte sich neben Lilian Landhäuser vor eine Wand mit Prospekten über die Fuggerei, von denen bereits jeweils ein Exemplar in ihrem Notizblock steckte.

"Kriminalkommissar Schedl und Kriminalhauptkommissar Hofbauer", der Mann, der zunächst seinen Kollegen und dann sich selbst vorstellte, zeigte zur Bestätigung seinen Dienstausweis und nickte freundlich.

Landhäuser stellte zunächst Ólafur Davídsson und dann sich selbst vor, ließ aber ihren Dienstausweis in der beigen Ledertasche, die ihr über der Schulter hing.

"Unser Kollege von der Spurensicherung kommt auch gleich vorbei, aber wir können schon einmal vorgehen. Ich habe uns bereits beim Grafen angemeldet", Hofbauer hatte einen unverkennbaren fränkischen Akzent und schien ein ruhiger und gewissenhafter Typ zu sein, der etwa Davídssons Größe hatte.

Schedl war leicht untersetzt und musste bereits kurz vor der Pensionierung sein. Er machte den Eindruck, dass er alles mit einer gewissen Gemütlichkeit anging. Er antwortete einsilbig auf den Redeschwall von Lilian Landhäuser, die ganz offensichtlich einen guten Gesprächspartner in ihm sah.

Davídsson beobachtete es amüsiert.

Sie wurden durch einen großen Vorraum über eine Treppe in den ersten Stock des mit Efeu überwachsenen Verwaltungsgebäudes geführt und dann in einen nüchternen Besprechungsraum. Sie setzten sich auf rote Stühle, die um einen buchefarbenen ovalen Besprechungstisch standen. Über ihnen hing ein alter Leuchter mit Kerzenlampen, die von goldenen Schlangen gehalten wurden. Ólafur Davídssons Blick fiel auf einen alten massiven Schrank, neben dem ein Beamer auf einem kleinen Wagen stand.

Hier wurde vermutlich über das Schicksal der Fürstlichen und Gräflichen Fuggerschen Stiftung entschieden, die hier ihren Sitz hatte, wie ein goldenes Schild am Eingang des Gebäudes verkündet hatte. Er sah das Porträt, das Albrecht Dürer um 1519 vom Stifter der Fuggerei, Jakob Fugger dem Reichen, angefertigt hatte, in einem goldenen Rahmen hängen. Auf dem Gemälde schien er keinerlei Gefühlsregungen zu haben.

Reichtum macht eben nicht zwangsläufig glücklich, dachte Davídsson. Er saß mit dem Rücken zu den vergitterten Fenstern. Hinter ihm standen ein alter Overheadprojektor und einige immergrüne Pflanzen auf der Fensterbank, die kaum Licht abbekamen.

Er hoffte, dass keine große Besprechung vor ihm lag. Er wollte dorthin, wo man die Leiche gefunden hatte. Alle anderen Informationen konnte er später noch abrufen, wenn er sie brauchte. Die Spuren an einem Fundort waren wichtiger für Rückschlüsse auf die Psyche eines Täters als die Informationen über historische Gegebenheiten.

"Der Administrator lässt sich entschuldigen", sagte eine gepflegt aussehende Frau in dunkelblauem Kostüm, die Davídsson auf Mitte fünfzig schätzte. Sie schloss hinter sich die Tür zum Besprechungsraum und stellte ein Tablett mit fünf Tassen duftenden Kaffees auf den Konferenztisch. "Mein Name ist Elisabeth Hübner, ich werde Ihnen für Ihre Fragen zur Verfügung stehen und diene als Ansprechpartnerin für Ihre Ermittlungen." Sie setzte sich neben Landhäuser und deutete auf die Tassen. "Wenn Sie mögen, können Sie auch ein Wasser trinken."

"Ja, gut. Das sind die Kollegen vom Bundeskriminalamt, und uns kennen Sie ja schon", sagte Hofbauer, der offenbar keinen richtigen Einstieg in ein Gespräch fand.

"Den drei fürstlichen Familien ist die ganze Sache sehr unangenehm. Wir würden es also begrüßen, wenn die Medien nur über unser Haus mit Informationen versorgt würden."

"Wer ist bei Ihnen dafür zuständig?", fragte Landhäuser, die sich erste Notizen in ihrem Block machte.

"Die Vorsitzende des Fürstlichen und Gräflichen Fuggerschen Familienseniorats hat das übernommen."

"Und Sie, welche Funktion haben Sie?", fragte sie weiter.

"Nur der Administrator und die Vorsitzende des Seniorates haben eine Art Amtsbezeichnung, wenn Ihre Frage darauf abzielte. Ich kümmere mich um alles Mögliche, auch deshalb gibt es keine genaue Bezeichnung meiner Arbeit. Wenn Sie so wollen, ist meine Aufgabe aber die Öffentlichkeitsarbeit und die interne Verwaltung. Ich kümmere mich aber auch um Personalangelegenheiten."

"Und der Verwalter?"

Die Frau richtete das dunkelblaue Jackett mit den goldenen Knöpfen, bevor sie antwortete. "Der Administrator ist der Verantwortliche für die Fuggerei. Die Bezeichnung stammt noch aus der Zeit ihrer Gründung. Der Begriff Fuggerei hat sich erst später eingebürgert, aber die Position des Administrators war schon bei der Gründung der Stiftung vorgesehen, und so haben wir seine Funktionsbezeichnung über das 500-jährige Bestehen beibehalten, auch wenn uns das dann und wann Schwierigkeiten machte." Sie nahm sich eine Tasse Kaffee und nippte daran. "Das Jubiläum war erst vor drei Wochen. Wir hatten Besucher aus aller Welt. Sogar drei Japaner waren da. Und jetzt so etwas. Das ist wirklich tragisch."

Landhäuser wollte zu einer neuen Frage ansetzen, aber Davídsson fiel ihr ins Wort, bevor sie anfangen konnte: "Ich würde mir gerne den Fundort der Leiche ansehen, bevor wir zu den Details kommen."

Er nahm einen großen Schluck Kaffee, in der Hoffnung, davon wacher zu werden, bevor er sich von dem roten Stuhl erhob. Er hatte immer noch Schmerzen von der langen Fahrt, die im Sitzen schlimmer wurden, aber in erster Linie wollte er damit seiner Forderung Nachdruck verleihen.


Davídssons Plan war aufgegangen. Die Gruppe hatte sich in Bewegung gesetzt. Sie waren an einem Parkplatz vorbeigegangen, um dann wieder durch einen Torbogen zu gehen, in dem rechts Mülltonnen aufgereiht standen. Davídsson war sich sicher, dass sie im Sommer einen unangenehmen Geruch verbreiten würden. Auf der linken Seite standen Fahrräder, deren Sättel bei Regen wenigstens trocken blieben, auch wenn man sie dafür bei Hitze aus einer Gestankshölle holen musste.

Schließlich blieb ihre Ansprechpartnerin vor einem der gelben Reihenhäuser stehen. Die anderen Gebäude ringsherum sahen alle gleich aus. In der Mitte von zwei Eingängen war eine 54 in einen roten Stein gemeißelt worden.

"Die Hausnummern wurden schon 1519 im gotischen Stil angebracht. Damals bestand die Fuggerei nur aus 52 Häusern, aber es waren dafür die ersten Hausnummern in Augsburg überhaupt. 1973 kamen dann weitere 15 Häuser dazu, sodass es jetzt 67 Häuser in der Fuggerei gibt." Elisabeth Hübner wirkte nervös. Sie zupfte sich ein paarmal an den Ärmeln ihrer Bluse, die unter einem dunkelgrünen Mantel hervorlugten.

Rechts neben der verblichenen grünen Tür war ein altmodischer Klingelzug angebracht worden, der so alt sein mochte wie die Gebäude der Siedlung selbst. Über eine verrostete Stange konnte man im Hausinnern eine Glocke läuten, die den Besuch ankündigte.

"Die alten Klingelzüge sind bei fast jedem Haus anders gestaltet worden. Man sagt, dass man damit erreichen wollte, dass die Bewohner der Fuggerei ihre Häuser auch nachts finden konnten. Heute sind die meisten nur noch Zierde. Wir erteilen immer häufiger eine Genehmigung für eine elektrische Klingel."

Davídsson dachte an das kleine Häuschen in Siglufjörður, in dem er groß geworden war. Dort gab es nicht einmal eine solche Klingel. Die Haustür war unverschlossen und der Besuch trat einfach ein und machte dann durch Rufen auf sich aufmerksam, wenn überhaupt ein Besucher den Weg zu ihnen gefunden hatte.

"Ich würde gerne hier draußen auf Sie warten", bat Hübner, der sichtlich unwohl bei dem Gedanken wurde, Spuren eines Toten zu sehen.

Schedl nickte verständnisvoll.

"Das Opfer ist eine junge Frau namens Catharina Aigner. Sie ist bereits zur Obduktion abgeholt worden. Wir haben aber Fotos, die wir Ihnen zeigen können. Auf denen können Sie auch die Lage und Position des Opfers erkennen", sagte Hofbauer, der das Siegel mit dem bayerischen Wappen von einer grünen Holztür löste, als könnte man es an einer anderen Tür noch einmal verwenden.

"Wie ist sie ermordet worden?", fragte Landhäuser.

"Vermutlich wurde sie erstickt", erwiderte Hofbauer, der die Tür jetzt öffnete.

"Und warum haben Sie uns zu den Ermittlungen angefordert?"

"Der jungen Frau wurden vor ihrem Tod alle Haare vom Kopf rasiert und dann in einem Plastikbeutel über den Kopf gestülpt. Der Täter hat ihr die Tüte mit einem Gummizug um den Hals gebunden. Da wir nicht einschätzen können, ob es sich um eine politisch motivierte Tat handelt, haben wir die Operative Fallanalyse des Bundeskriminalamtes um Mithilfe gebeten." Hofbauer gab den Weg frei und Landhäuser betrat das Haus als Erste.

Ólafur Davídsson folgte ihr durch einen schmalen Flur mit dunklem Steinboden. An der Decke hing eine altmodische Lampe, die nur wenig Licht von sich gab.

"Die Leiche wurde im Wohnzimmer gefunden. Das ist gleich hier vorne rechts", sagte Hofbauer, der ihnen gefolgt war, während sein Kollege bei Hübner blieb.

Davídsson dachte an den Begriff ›Wohnzimmer‹, als er in der Mitte des kleinen Raumes stand. Hier erfuhr das Wort eine neue Bedeutung. Wohnlich war der Raum jedenfalls in seinen Augen nicht. Er war karg mit alten Möbeln eingerichtet, die eher auf den Sperrmüll passten als in ein Wohnzimmer.

Er stellte sich neben eine speckige Ledercouch, deren Rückenlehnen mit einem bunten Stoff überzogen worden waren, vermutlich, nachdem das Leder brüchig geworden war.

Vor einem hellen Steintisch, der auf dreieckigen Füßen stand, war mit Farbe die Silhouette eines Menschen gesprüht worden. Die Umrisse waren zum Teil auf einem grob gewebten Teppich und auf dem Holzboden zu sehen.

"Diese Hübner hat uns als Allererstes gefragt, ob die Farbe wieder rausgeht, wenn das alles hier vorbei ist", sagte Hofbauer, der Davídssons Blicken gefolgt war.

Ólafur Davídsson kommentierte das nicht.

Er versuchte sich das Bild vorzustellen, dass die Ermittler gesehen hatten, als sie zum ersten Mal in diesem Raum gestanden hatten. Er dachte an die beiden Zehn-Krónur-Münzen in seiner Sakkotasche und hoffte, dass die Tote auch ohne sie den Styx überqueren durfte. Seitdem sein Vater gestorben war, hatte er sie immer bei sich. Er hoffte, dass sie ihm jemand auf die Augen legen würde, wenn er einmal sterben musste, damit Charon ihn in das Reich von Pluto schiffen würde.

Es war seine Art, um die Toten zu trauern, und er hoffte, dass um ihn auf die gleiche Art getrauert werden würde, wenn er von dieser Welt gehen musste.

Er hatte schon oft genug gesehen, wie nichts als ein kleiner Karton mit ein paar wenigen Habseligkeiten von einem Menschenleben übrig blieb. Alle Konten wurden gelöscht, die Wohnung wurde aufgelöst und die Erinnerung verblasste allmählich, bis nicht einmal mehr der Karton oder ein Name übrig blieb.

Davor hatte er Angst.

Bei allen, die er liebte. Bei seiner Schwester und seinem Bruder und bei sich selbst, aber auch bei allen Opfern, deren Leben er untersucht hatte und die er auf seine Art kennengelernt hatte. Auch wenn ihre Namen in den Zeitungen standen, wusste bald niemand mehr, wer sie wirklich waren. Was diese Personen ausmachte und was für Träume sie gehabt hatten, bevor sie sterben mussten.

Die ursprüngliche Vorstellung der griechischen Mythologie gefiel ihm, weil man demnach im Hades ein scheues Leben im Schattenreich führen konnte, bei dem es keine Unterschiede mehr machte, wer man früher einmal gewesen war oder wie viel man einmal besessen hatte. Er war davon überzeugt, dass jeder in seinem tiefsten Inneren diesen Traum hatte, den er nach dem Tod seiner Eltern in seiner Gefühlswelt kultiviert hatte.

"Ich brauche die Fotos von der Leiche, und geben Sie meiner Kollegin auch einen Satz. Wer hat sie hier gefunden?", fragte er schließlich.

"Ein Nachbar, der die Wohnung darüber bewohnt. Sie hat sich wohl ein bisschen um ihn gekümmert."

"Haben Sie schon mit ihm gesprochen?"

"Das wollten wir Ihnen überlassen."

Davídsson nickte stumm, während Lilian Landhäuser einen alten Vitrinenschrank öffnete, in dem eine heillose Unordnung herrschte. Neben Kleidungsstücken fand sie auch Papiere und Zeitschriften.

Der Fallanalytiker hatte die vordergründige Ordnung bemerkt, die in diesem Zimmer herrschte. Er hatte eine Fernsehzeitung gesehen, die auf dem Tisch lag, und Zigarettenschachteln. Eine von ihnen war leer, die andere schien noch nicht geöffnet worden zu sein. Neben der Couch lagen zwei angebrochene Chipstüten und eine alte Zeitung, auf der ein Glas mit brauner Flüssigkeit stand. Vermutlich war es Cola. Ein paar wenige Kohlensäureperlen stiegen noch an die Oberfläche auf.

Er ging zu einem kleinen Regal, auf dem ein klobiger Fernsehapparat und ein Videorekorder standen.

"Hat jemand Videokassetten in der Wohnung gefunden?", fragte er Hofbauer, der sich gegen die Fensterbank gelehnt hatte. Ein moderner Heizkörper war das einzig Neue in diesem Raum. Erst jetzt fiel ihm die Kälte auf, die in der Wohnung herrschte.

"Im Rekorder steckte eine. Sie ist im Labor. Sonst haben wir keine finden können."

"Gibt es Einbruchspuren?" Ólafur Davídsson sah erst Schedl und dann Hofbauer an.

"Die Spurensicherung hat keine gefunden", antwortete Schedl.

"Wer hat einen Schlüssel zu dem Eingang?" Davídsson sah, dass Lilian Landhäuser eifrig mitschrieb.

"Nur das Opfer, soweit wir wissen. Vielleicht gibt es noch einen Zweitschlüssel in der Administration, aber sonst hat niemand einen Schlüssel."

"Das würde bedeuten, dass das Opfer seinen Mörder gekannt haben musste", schlussfolgerte Lilian Landhäuser und sprach damit aus, was alle dachten.

"Und was wissen wir über Catharina Aigner?" Davídsson versuchte sich den Namen einzuprägen.

Er hasste es, nur von einem namenlosen Opfer zu sprechen. Diese Anonymität ist nicht gut, dachte er. Sie lässt uns vergessen, dass es sich hier um einen Menschen handelt, der Gefühle und Träume hatte, bevor er ermordet wurde. Menschliche Regungen, die vielleicht die Wege des Mörders wegen dieser Träume gekreuzt hatten.

Er stellte sich vor die Couch und betrachtete das einzige Bild im Raum. Es war ein Nachdruck eines klassischen Blumengemäldes.

Davídsson versuchte sich an den Künstler oder den Namen des Gemäldes zu erinnern, aber beides fiel ihm nicht ein,

"Naja, nicht viel." Schedl stellte sich neben Davídsson zu dem Bild und schien nun ebenfalls zu überlegen, wer der Künstler war. "Um in die Fuggerei aufgenommen zu werden, muss man bestimmte Bedingungen erfüllen, die bei der Aufnahme überprüft werden."

"Für eine junge Frau ist diese Wohnung erstaunlich altmodisch eingerichtet", stellte Davídsson fest, ohne dabei direkt jemanden anzusprechen. Dann wandte er sich an Schedl. "Was sind das für Bedingungen?"

"Die Person muss aus Augsburg stammen, katholisch sein und sie muss unverschuldet in Not geraten sein. Das alles trifft offensichtlich auf das Opfer zu, sonst wäre sie nicht hier gewesen."

"Ja."

"Wieso katholisch?", wollte Landhäuser wissen.

"Die Fuggerei ist die älteste noch bestehende Sozialbausiedlung der Welt. Als Jahresmiete muss man nur einen Rheinischen Gulden bezahlen, was umgerechnet gerade einmal einem Gegenwert von 88 Cent entspricht, und außerdem verpflichtet man sich, täglich drei Gebete für den Stifter und seine Familie zu sprechen. Wie soll man für die Fugger ein ›Ave Maria‹, ein Glaubensbekenntnis und ein ›Vaterunser‹ sprechen, wenn man nicht katholisch ist?"

"Ist das nicht etwas antiquiert?"

"Fragen Sie das Frau Hübner", antwortete Hofbauer, bevor Schedl etwas sagen konnte.

"Und was wissen wir sonst noch über Catharina Aigner? Warum war sie hier? Hatte sie keine Familie, die ihr helfen konnte? Was ist mit dem Sozialamt?"

"Wir wissen noch nicht besonders viel über das Opfer", antwortete jetzt wieder Schedl.

Davídsson ging durch eine Verbindungstür in die Küche, die genauso spartanisch eingerichtet war wie das Wohnzimmer.

Die Küchenzeile bestand nur aus Unterschränken, einer einfachen Spüle und einem Herd mit Elektroofen, der direkt neben dem Fenster stand und völlig unbenutzt aussah. Er öffnete die Türen der Schränke und fand ein Sammelsurium an Töpfen und Tellern, die alle völlig unterschiedlich waren. Auf der braunen Arbeitsplatte stand ein Wasserkocher, der dringend entkalkt werden musste, und daneben eine leere Colaflasche eines Discounters.

Hinter ihm stand ein einfacher Küchentisch und eine hölzerne Eckbank, die reichlich unbequem aussah. Unter einem Holzkreuz lag ein buntes Kissen, das den harten Untergrund offensichtlich etwas erträglicher machen sollte.

Davídsson dachte an ein Kloster. So hatte er sich das Leben dort immer vorgestellt. Einsam, kalt und spartanisch, aber ohne Cola und Chips.

Er trat in den Flur und warf einen Blick auf zwei Hundenäpfe, die unter einem Spiegel mit goldenem Rahmen standen.

Der Fallanalytiker atmete die Luft bewusst ein, ohne dabei einen Geruch wahrzunehmen. Die Luft in dieser Wohnung schien klinisch rein zu sein, ohne die üblichen Gerüche, die Menschen im Laufe der Jahre hinterließen, wenn sie sich in den Räumen ihrer Wohnungen länger aufhielten. Davídsson konnte nicht einmal den Geruch eines Hundes bemerken.

"Hat jemand hier einen Hund gesehen?", fragte er schließlich den Kriminalkommissar, der direkt hinter ihm stand.

"Der ist offensichtlich verschwunden."

"Hat ihn vielleicht der Nachbar?"

"Bestimmt nicht." Schedl grinste, als hätte er einen guten Scherz gemacht.

Davídsson betrat das Badezimmer, das relativ neu aussah. Der Boden musste erst vor Kurzem neu gefliest worden sein. Es gab nirgendwo Schimmel oder Feuchtigkeit. Neben dem Waschbecken stand eine Waschmaschine und ein Wäschekorb aus Kunststoff. Er kniete sich in der ebenerdigen Dusche auf den Boden und fand Haare, die sich im Sieb des Ablaufs verfangen hatten.

"Hat die Spurensicherung davon Proben genommen?", fragte er Hofbauer, der ihn daraufhin überrascht ansah.

"Ich habe keine Veranlassung dazu gesehen, die Spurensicherung damit zu beauftragen. Die Identität des Opfers ist eindeutig geklärt. Wieso also ein DNA-Abgleich?"

"Wissen Sie denn schon, an welchem Ort das mit den Haaren passiert ist, bevor sie in einer Plastiktüte über dem Kopf von Catharina Aigner gelandet sind?" Davídsson stand auf und ging ins danebenliegende Schlafzimmer.

"Glauben Sie etwa, dass sie dabei mit ihrem Mörder unter der Dusche gestanden hat?"

Hofbauer und Lilian Landhäuser waren ihm in das Schlafzimmer gefolgt und standen jetzt nebeneinander vor einem Kleiderschrank. Davídssons Kollegin konnte der Versuchung nicht widerstehen und öffnete eine der Türen, um sich ordentlich zusammengelegte Jeans und T-Shirts anzusehen.

"Mit Spekulationen kommen wir nicht weiter. Gibt es sonst irgendwo in der Wohnung eine Stelle, wo besonders viele Haare zu finden waren?"

Hofbauer schüttelte den Kopf und Davídsson war versucht, es ihm wegen seiner Ignoranz gleichzutun.

"Anhand der Proben kann man im Labor feststellen, ob ihr die Haare hier abrasiert worden sind. Vielleicht sind ja auch Haare dabei, die vom Täter mit der ganzen Haarwurzel ausgerissen wurden, und möglicherweise finden wir auch noch DNA-Spuren von einer anderen Person, die hier unter der Dusche stand und etwas mit dem Mord zu tun hat. Bisher steht ja noch nicht fest, ob es sich hier um eine Beziehungstat handelt. Wenn Sie allerdings an die Statistiken denken, kommt als häufigstes Motiv eines Gewaltverbrechens eine persönliche Beziehung zu den Opfern in Betracht. Ich kann also nicht ausschließen, dass die junge Frau mit ihrem Mörder unter der Dusche gestanden hat. Es kann natürlich auch sein, dass ihr die Haare einfach beim Duschen ausgefallen sind und wir einer völlig falschen Spur gefolgt sind. Das hätten wir dann mit einer Untersuchung jedoch auch ausgeschlossen."

Hofbauer grummelte etwas Unverständliches und wies dann Schedl an, die Spurensicherung zu informieren.

Der Kriminalanalytiker warf einen Blick auf die sorgfältig zusammengelegte Tagesdecke mit Rosenmuster, die auf dem Bett lag. Auf dem Nachttisch lagen ein paar Bücher mit deutlichen Gebrauchsspuren und eine Packung unbenutzter Kondome.

Die Idee, dass Catharina Aigner einen Freund gehabt hatte, war nicht so abwegig, wie Hofbauer dachte, auch wenn sich Davídsson kaum vorstellen konnte, dass sie ihn in so einer Umgebung empfangen hatte.

"Sind Kondome überhaupt bei Katholiken erlaubt?"

"Ich glaube nicht …", antwortete Hofbauer, dessen Kopf plötzlich rot angelaufen war, als ihm Landhäuser die Frage gestellt hatte.

Davídsson grinste innerlich. Landhäuser hatte ins Schwarze getroffen. Wieder einmal.

"Kann uns Frau Hübner etwas zu dem Opfer sagen? Kümmert sie sich auch um die Aufnahme neuer Bewohner der Fuggerei?", fragte sie, als sei nichts gewesen.

Hofbauer hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. "Nein. Das macht jemand anderes. Die Dame ist aber erst heute Nachmittag da. Sie musste heute Morgen zum Arzt. Irgendetwas mit den Zähnen."

"Was ist mit Angehörigen?", fragte Davídsson nach einer Weile. Sie waren wieder in den kleinen Vorgarten hinausgegangen. Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war grau geblieben.

Hofbauer sah ihn fragend an.

"Gibt es welche? Wenn ja, haben Sie sie bereits verständigt oder sollen wir das erledigen?" Davídssons Stimme wurde schärfer. Er war diese Begriffsstutzigkeit nicht gewohnt.

"Es gibt keine. Besser gesagt: Wir haben keine gefunden."

Der Vorgarten sah gepflegt aus. Ólafur Davídsson kannte sich mit Pflanzen zu wenig aus, aber er erkannte, dass es kein Unkraut gab. Alle Büsche waren beschnitten und die Blumenblüten waren nach Farben sortiert. In der Mitte stand eine Weide mit weißen, beinahe elliptischen Blättern.

"Das ist eine Salix integra Hakuro Nishiki, eine japanische Weide", sagte Lilian Landhäuser. "Meine Eltern haben so eine im Garten. Der Austrieb ist zart flamingorosa, dann wird das Laub rosa-weißlich gepunktet und zum Schluss sind die Blätter grün-weiß marmoriert."

"Toll", sagte Davídsson und sah, wie sie versuchte, seinen Kommentar einzuordnen.

Er meinte es durchaus nicht zynisch.

Vielleicht kaufe ich mir so eine japanische Weide für den Balkon, überlegte er.

"Wann kommt der vorläufige Obduktionsbericht?", fragte er zu Hofbauer gewandt.

"Eigentlich sollte der Pathologe hierherkommen." Der Kriminalhauptkommissar zog ein Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer und führte daraufhin ein kurzes Telefongespräch.

"Er hat die Ergebnisse der Toxikologie noch nicht vorliegen."

"Dann würde ich mich gerne noch ein bisschen alleine hier umsehen und schlage deshalb vor, dass wir uns heute Nachmittag wieder treffen. Am besten wieder an der Kasse."

Über Alexander Guzewicz

Alexander Guzewicz ist in der Nähe von Heidelberg aufgewachsen und hat dort eine juristische Ausbildung beim Land Baden-Württemberg absolviert. Er hat schon sehr früh, im Alter von fünfzehn Jahren, mit dem Schreiben begonnen. Alexander Guzewicz lebt und arbeitet heute in Berlin.

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