Jugendrausch: Ein Ólafur Davídsson Roman
Ein Toter in einer Berliner Vorstadtvilla. Nichts Besonderes für einen Fallanalytiker. Aber warum ist das Opfer nackt? Und was hat es mit dem merkwürdigen Raum auf sich, in dem der Junge gefunden wird? Die Nachforschungen haben einen größeren Einfluss auf die Zukunft der Ermittler als zunächst angenommen.
Ólafur Davídsson sieht sich immer wieder mit seiner eigenen Jugend konfrontiert, die alles andere als perfekt war. Plötzlich steht die Welt auf dem Kopf und eine zweite Jugend ist für ihn scheinbar zum Greifen nahe.
Erst als der Fall schon fast gelöst ist, erkennt der Fallanalytiker, wer die Kosten für den Schönheitswahn und den Traum von einer ewigen Jugend tragen muss.
Spätestens jetzt steht jeder vor der Frage: Wie weit würde ich dafür gehen, in einem jungen und makellosen Körper neu anfangen zu können?
Darum geht es
Zunächst sieht es nach einem ganz normalen Mordfall aus und Ólafur Davídsson fragt sich, weshalb er bei der Aufklärung mitarbeiten soll. Der Fundort des Opfers ist zwar ungewöhnlich und der Jugendliche mit den perfekten symmetrischen Gesichtszügen ist nackt, aber in Berlin ist das nicht so außergewöhnlich, dass ein Fallanalytiker vom Bundeskriminalamt hinzugezogen werden müsste. Allerdings wird der klinisch-reine Metallwürfel, in dem das Opfer gefunden wird, durch eine Bombe versperrt, die zunächst entschärft werden muss, bevor die Spurensicherung ihre Arbeit aufnehmen kann.
Die Gerichtsmedizin findet in der linken Ferse des Opfers einen kleinen Metallsplitter, der eine unbekannte Legierung aufweist. Aber der Obduktionsbericht birgt noch eine unglaublichere Erkenntnis: Das Gehirn des jungen Mannes ist deutlich älter als der restliche Körper. Es ist das Gehirn einer fremden Person.
Ólafur Davídssons Ermittlungen bei seinem vierten Fall führen ihn in die Welt der körperlichen Perfektion und Schönheit. In Zeiten des Selbstdarstellung und Selbstperfektionierung ist das höchste Gut ein jugendlicher, leistungsstarker und perfekter Körper ohne Makel. Selbst die plastische Chirurgie kann jedoch noch keine Wunder vollbringen und den Alterungs- und Verfallsprozess des Körpers stoppen. Was wäre aber, wenn man sich mit seinem Reichtum einen jungen Körper kaufen könnte? Neben den ethischen Vorbehalten, die heute noch mit solchen Möglichkeiten verbunden wären, stellt sich für Ólafur Davídsson die Frage, ob ein perfekter jugendlicher Körper auch die Unbeschwertheit der Jugend zurückbringen könnte. Der Fallanalytiker sieht sich bei den Ermittlungen auch mit seiner eigenen Jugend konfrontiert und bemerkt, wie wenig er seinen jungen Körper zu schätzen wusste.
»Ein ungewöhnlicher Krimi, bei dem man auf alles gefasst sein muss ...«
Der Raum war zu klein. Sie konnten nicht alle Platz darin finden. Noch wartete Ólafur Davídsson in dem engen kühlen Gang, bis jemand heraustrat und ihm das Feld überließ.
Der Kellerflur verströmte den Geruch von trockener Dunkelheit. Die vielen Männer, denen er immer wieder Platz machen musste, hatten den Staub aufgewirbelt, der sich im Laufe der Jahre in jede Ritze dieses Kellers gelegt hatte.
Geduld war nicht gerade einer seiner Stärken, zumal es oft genug vorkam, dass einer der beteiligten Kriminalkommissare nichts mit einem Fallanalytiker anfangen konnte. Die Methode war einfach noch zu neu für die deutschen Kollegen.
Sie kannten sie nur aus amerikanischen Kino-und Fernsehfilmen und empfanden es meistens als Unfug, einen Profiler, wie sie in diesen Filmen fälschlicherweise genannt wurden, zurate zu ziehen.
Vielleicht gab es deshalb auch nur sechzehn Fallanalytiker in ganz Deutschland, die zusammen gerade einmal um die fünfzig Fälle im Jahr betreuten.
Selbst wenn sie sich irgendwann einmal damit abfanden, war allein der isländische Name ein Problem für die meisten. Die Tatsache, dass damit auch das Bundeskriminalamt an dem Fall beteiligt war, wurde wenigste damit zur Nebensache. Auch wenn das nicht immer hilfreich war, verhinderte es die immer gleichen Fragen und Kompetenzrangeleien, die es zu Beginn der Ermittlungen sonst immer wieder gab.
Kriminalhauptkommissar Engbers war der Erste, der aus dem Raum trat und direkt auf Davídsson zusteuerte. Davídsson war erleichtert, dass offensichtlich Engbers die Ermittlungen leitete. Sie kannten sich von einem anderen Fall, an dem sie vor fast zwei Jahren zusammengearbeitet hatten. Auch wenn sie sich nicht immer gut verstanden und sehr oft unterschiedliche Ansichten vertraten, waren sie sich doch vertraut und er musste sich nicht erst mit langwierigen Erklärungen ein gewisses Ansehen verschaffen.
Das war ihm bereits vor zwei Jahren gelungen.
Engbers, der in den letzten Jahren scheinbar um keinen Tag gealtert war, streckte ihm wortlos die Hand hin, schüttelte sie und steckte sich anschließend völlig automatisch eine Zigarette an.
"Das hier ist der ungewöhnlichste Fundort einer Leiche, den ich je in der ganzen Zeit gesehen habe", sagte er, nachdem er tief inhaliert hatte und jetzt den Rauch langsam so entweichen ließ, dass er nicht in Ólafur Davídsson Richtung zog.
"Wann kann ich ihn mir ansehen?"
"Die Kollegen von der Spurensicherung brauchen bestimmt noch eine Stunde, wenn nicht länger." Er sah zu dem Eingang hinüber, als wolle er seine Einschätzung noch einmal überprüfen, bevor er Davídsson mit einem Stirnrunzeln ansah. "Die werden nichts finden. Da drinnen ist es sauberer als in jedem OP. Wir können ja kurz nach oben gehen, dann erzähle ich dir schon einmal ein paar Details, oder hat das der Dauerdienst schon gemacht?"
Davídsson war vor knapp einer Stunde auf dem Weg nach Hause von seinem Chef angerufen und, weil er an diesem Wochenende Bereitschaft hatte, mit dem Fall beauftragt worden.
Der Kriminaldauerdienst hatte ihm dann lediglich mitgeteilt, dass er in die Welfenallee nach Frohnau fahren solle.
Bis Engbers aus dem Raum trat, wusste er nicht einmal, wer die Ermittlungen leitete. Er wusste auch nicht, um welche Art von Verbrechen es sich handelte, auch wenn er vermutete, dass es um einen Mord ging. Das war meistens der Fall, wenn er hinzugezogen wurde.
Bisher hatte er es nur zweimal mit einem anderen Verbrechen zu tun gehabt und das war nicht in Deutschland, sondern in Island gewesen, wo man diese Art der Tätersuche schon längere Zeit einsetzte. Auch wenn es sich um Vergewaltigungen oder Entführungen handelte.
Er folgte Engbers über ein enges Treppenhaus mit kahlen Betonwänden, die lediglich weiß angestrichen waren, nach oben, wo es deutlich wärmer war.
Sie standen in einem großen Wohnzimmer, das etwas Behagliches hatte. Ein offener Kamin, in dem noch einige Holzscheite glimmten, gab wohlige Wärme ab, die sich, bis auf den Keller, in allen Räume des Hauses ausgebreitet hatte.
Sofort fiel Ólafur Davídsson die penible Ordnung auf, die hier herrschte. Nichts lag einfach nur herum, nicht einmal eine Zeitung oder ein Buch.
Selbst die offene Küche war ordentlich und wirkte völlig ungenutzt. Engbers, der sich anscheinend schon auskannte, ließ sich auf einer altweißen Ledercouch in einer Raumecke nieder.
"Hier war die Spurensicherung schon. Wir können uns im Wohnzimmer völlig frei bewegen", sagte er und bedeutete Davídsson mit dem Kopf, dass er Platz nehmen solle. "Als wir hierhergerufen wurden, war es draußen noch hell." Er sah kurz auf seine Armbanduhr, bevor er weiterredete. "Das ist jetzt schon viereinhalb Stunden her. Der Kampfmittelräumdienst musste erst eine Bombe entschärfen, bevor wir überhaupt bis in diesen merkwürdigen Raum vordringen konnten."
"Eine Bombe?", fragte Ólafur Davídsson, der mit allem anderen gerechnet hatte, nur nicht damit.
"Ja, mitten in Berlin. Ich sagte dir ja, dass es der ungewöhnlichste Fundort einer Leiche ist, den ich je hatte. Es war auch nicht eine normale Bombe, wie wir sie von terroristischen Aktivitäten her kennen oder eben Sprengstoff, mit dem die Typen normalerweise versuchen, Tresore aufzubrechen. Die vom Kampfmittelräumdienst haben gesagt, dass sie so etwas bisher nur aus Lehrbüchern kennen. Diese Bombe hatte einen chemischen Zünder." Engbers legte eine kurze Pause ein, wohl um zu überlegen, ob er hier rauchen konnte oder nicht. Schließlich entschied er sich dagegen und steckte die Packung wieder zurück in die Hemdtasche unter seinem Pullover.
"Wo befand sich die Bombe und wie seid ihr überhaupt darüber informiert worden?" Davídsson war aufgestanden und zu einer Regalwand gegangen, die einer großen Fensterfront gegenüberstand.
"Das ist noch absurder als in jedem billigen Krimi. Gegen fünfzehn Uhr ging ein Notruf ein. Eine digital verzerrte Stimme berichtete in knappen Sätzen von einer Bombe in der Welfenallee in Frohnau. Auf Fragen wurde nicht geantwortet und schließlich wurde einfach aufgelegt. Die Techniker vom Landeskriminalamt sind schon dabei, die Stimme kenntlich zu machen. Ich habe sie gleich darauf angesetzt, als wir die Bombe gefunden haben."
Davídsson hörte ihm zu, während er langsam mit den Fingern über die Buchrücken strich. Er blieb bei einem Physikschulbuch stehen, nahm es heraus und blätterte es interessiert durch.
Schließlich fragte er zu Engbers gewandt: "Wie sieht der Raum da unten eigentlich aus? Vorhin wollten die Uniformierten mir nicht einmal einen kurzen Blick gestatten."
"Das sieht denen mal wieder ähnlich. Typisch Schnittlauch - innen hohl und außen grün. Das ändert sich auch durch die neuen blauen Uniformen nicht. Ich habe nur noch nicht den passenden Spruch dazu."
Engbers machte kein Geheimnis daraus, dass er den uniformierten Kollegen keine guten kriminalistischen Fähigkeiten zutraute. Er war der Ansicht, dass sie nur dazu zu gebrauchen waren, den Verkehr zu regeln, Besoffene in die Ausnüchterungszelle zu bringen und Tatorte vor neugierigen Blicken zu schützen.
Schließlich meinte er: "Beschreiben kann ich dir das eigentlich nicht. Das muss man selbst gesehen haben."
Sie schwiegen eine ganze Weile. Davídsson überflog ein Kapitel, in dem man auf ein paar Seiten die Spezielle Relativitätstheorie abhandelte und dabei versuchte, dies so einfach und unwissenschaftlich wie möglich zu formulieren. Er war auf das Buch gestoßen, weil es zu den Restlichen überhaupt nicht passte.
Engbers saß auf der Couch und schien nachzudenken, bis sich die Tür zum Treppenhaus, das zum Keller führte, öffnete und die junge Gerichtsmedizinerin den Raum betrat. Es war unübersehbar, dass ihn nicht nur das Ergebnis der ersten Untersuchungen interessierte.
Sie reichte Davídsson ihre weiche, schlanke Hand und musterte ihn dabei aus blaugrauen Augen, was ihm ein wenig unangenehm war. Sie war kaum älter als Davídsson und hatte neben einem freundlichen Gesicht auch eine sehr vorteilhafte Figur.
"Dr. Franziska Bürling. Ich bin die Gerichtsmedizinerin, die für diesen Fall zuständig ist."
Engbers nickte ihr nur kurz zu, während er ihr Ólafur Davídsson vorstellte.
"Der Junge ist höchstens seit acht Stunden tot. Ich habe wegdrückbare Totenflecke vorgefunden. Außerdem trat die Totenstarre nach gewaltsamer Lösung wieder auf. Über die Ursache kann ich erst nach einer genauen Obduktion etwas sagen. Äußerlich ist jedenfalls außer ein paar Knochenbrüchen nichts Auffälliges feststellbar. Hätte man ihn nicht unter diesen Umständen gefunden, hätte man vermutlich nicht einmal auf eine außergewöhnliche Todesursache geschlossen und ihn einfach so freigegeben."
Sie löste den Mundschutz, den sie zuvor einfach nach unten gezogen hatte, und steckte ihn in die Jeanstasche, aus der bereits die Handschuhe herausragten.
"Wenn Sie mich nicht mehr benötigen, würde ich jetzt gerne nach Hause fahren."
"Ich würde mir gerne den Fundort der Leiche zusammen mit Ihnen ansehen, wenn das möglich ist. Vielleicht brauche ich noch Ihr Fachwissen. Außerdem brauche ich natürlich noch den Bericht, wenn er fertig ist", sagte Davídsson, der sie eigentlich nur ungern vom Feierabend abhalten wollte.
Engebers nickte beipflichtend, was sie jedoch bewusst übersah.
Es war für alle Anwesenden unübersehbar, dass sie sein unangenehm aufdringliches Verhalten und die Art, wie er sie ansah, hasste. Für alle war das sichtbar, nur anscheinend nicht für Engbers, dachte Davídsson, der es registrierte, aber nicht weiter darüber nachdenken wollte.
Sie hatte schon mehrmals mit Engbers beruflich zu tun gehabt und wartete nur darauf, dass dieser sie wegen einer Verabredung ansprechen würde - dann würde sie ihm gehörig die Meinung sagen. Bisher hatte er sich dazu noch nicht durchringen können, vielleicht, weil sie ihn zu deutlich abblitzen ließ, vielleicht aber auch nur, weil er noch andere Verabredungen in der wenigen Freizeit unterbringen musste, die er zur Verfügung hatte.
Jedenfalls war das der Ruf, der ihm vorauseilte.
"Ich glaube, die Kollegen von der Spurensicherung sind gleich durch. Wir können ja schon mal wieder nach unten gehen", schlug sie vor.
Ólafur Davídsson konnte an ihren Augen ablesen, dass sie den Tod gesehen hatten. Er hatte immer wieder beobachtet, wie diese Bilder sich in den Augen derer widerspiegelten, die einen leblosen Körper gesehen hatten. Es machte nachdenklich und besorgt, auch wenn es die Arbeit dieser Leute war - die Arbeit mit dem Tod.
Die Kollegen von der Spurensicherung hatten sich in dem engen Kellerflur versammelt. Einige rauchten, andere räumten die Gerätschaften in große silberne Koffer. Die meisten von ihnen hatten noch ihre Ganzkörper-Schutzanzüge an und der Mundschutz war einfach vom Mund gezogen worden und hing jetzt etwas verloren um den Hals.
Die eigentliche und sehr zeitaufwendige Arbeit wartete erst im Labor auf sie. Dort wurden die sichergestellten Spuren untersucht und ausgewertet und ein Leichenbefundbericht musste in enger Zusammenarbeit mit der Gerichtsmedizin geschrieben werden - und das alles in kürzester Zeit, um die Kollegen von der gerade erst eingerichteten Mordkommission, zu der nun auch der hinzugezogene Fallanalytiker gehörte, bei ihrer Arbeit zu unterstützen.
Davídsson betrat den Raum, nachdem Engbers den leitenden Sachbearbeiter der Spurensicherung gefragt hatte, ob sie fertig seien, und dieser seine Frage bejaht hatte.
Die Spurensicherer hatten zwei Lampen aufgestellt, die jetzt ihr dünnes bläuliches Licht verteilten. Davídsson wäre beinahe über ein Verlängerungskabel gestolpert, das quer durch den Raum verlief, der offenbar über keine eigene Lichtquelle verfügte. Das Licht ließ die Dinge zerbrechlich wirken und es erinnerte ihn an die Insektenvernichter, die in Großküchen hingen.
Er versuchte, alles gleichzeitig zu erfassen.
Sein Blick fiel auf das Opfer, das in einer ungewöhnlichen Körperhaltung nackt auf dem Boden lag und ihn direkt anzustarren schien. Der linke Arm war unnatürlich hinter den Rücken verdreht und auch die Füße waren so abgewinkelt, dass Davídsson davon ausging, dass sie gebrochen sein mussten.
Er fragte Bürling, die ihm direkt in den Raum gefolgt war, ob das die Auffindesituation darstellte. Ohne ihr Nicken zu sehen, wusste er, dass dies der Fall war. Sie widersprach nicht und er wusste genug über die Tatortarbeit der Gerichtsmedizin, um zu erkennen, wenn die Lage verändert worden wäre.
Er ging direkt vor dem Toten in die Hocke und betrachtete den höchstens zwanzigjährigen Jungen aus der Nähe. Seine dunkelbraunen Augen starrten ins Leere. Sie schienen nicht angsterfüllt zu sein, aber irgendetwas stimmte trotzdem nicht mit ihnen. Ein schwacher Schimmer des bläulichen Lichtes spiegelte sich in diesen Augen.
"Er sieht verdammt gut aus, fast wie ein Model oder wie ein männlicher Engel", sagte die Gerichtsmedizinerin, mit einem Unterton, der in Engbers Richtung zielte.
Davídsson, der sich normalerweise nur dafür interessierte, wie die Opfer aussahen, wenn daraus Muster oder Gemeinsamkeiten erkennbar wurden, die Rückschlüsse auf den Täter zuließen, musterte den Körper des jungen Mannes und nickte zustimmend.
Seine feinporige Haut glänzte ein wenig, als hätte er geschwitzt, aber er roch stattdessen nach irgendeinem sportiven Duschgel. Über einer der beiden kleinen dunklen Brustwarzen waren drei schwarze, kaum sichtbare Muttermale in einem Dreieck angeordnet und darunter bildete ein Sixpack sanfte Konturen um einen nach innen gerichteten Bauchnabel. Sein Oberkörper war athletisch und unbehaart und auch seine Oberarme waren muskulös, aber nur gerade soviel, dass sie zu dem jugendlichen Körper passten. Die Finger gehörten zu schmalen Händen, denen die darauf sichtbaren Adern einen kraftvolles Aussehen verliehen.
Davídsson musterte die Gesichtszüge des Jungen, die tatsächlich etwas Engelhaftes hatten. Es war ein schmales gleichmäßiges Gesicht, das ihn an Aufnahmen von einer Modenschau erinnerte. Über den Augen bildeten leicht geschwungene Augenbrauen ein harmonisches Bild mit den ebenfalls ausdrucksstarken vollen Lippen, die jetzt halb geöffnet weiße Zähne zum Vorschein brachten, die jeden Zahnarzt wegen ihrer gleichmäßigen Anordnung erfreut hätten. Er schätzte die Größe des toten Jungen, obwohl in gebeugter Haltung liegend, auf etwa hundertneunzig Zentimeter.
Die Gerichtsmedizinerin hatte sich neben Davídsson in die Hocke begeben und streichelte dem Opfer sanft über die dunklen, wild abstehenden Haare.
"Warum musste so ein hübscher junger Mann wie du sterben? Du hattest doch noch dein ganzes Leben vor dir. Wer hat dir das angetan?"
Ólafur Davídsson holte aus seinem Portemonnaie zwei Zehn-Krónur-Münzen und legte sie beide mit der Seite, die die vier Kapelane zeigte, auf die Stirn des Opfers.
"Gehört das zu Ihrer Arbeit als Fallanalytiker?", fragte Dr. Bürling erstaunt, die mit diesem Brauch nichts anfangen konnte.
Engbers grinste.
"Das ist für den Fährmann. Er macht das bei jedem Mordopfer. Es ist wohl seine Art, den Ermordeten eine letzte Ehre zu erweisen. Ich glaube, es hat etwas mit der griechischen Mythologie zu tun."
"Eigentlich muss es eine Münze sein, die dem Toten unter die Zunge gelegt wird", murmelte Davídsson, den Blick auf das vor ihm liegende Opfer geheftet. "Styx ist ein Fluss in der Unterwelt und die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich. Die Seelen der Toten werden von Charon, dem Fährmann, über den Styx gefahren. Deshalb wurde den Toten der alten Griechen ein Obolus unter der Zunge mitgegeben, damit sie Charon für die Überfahrt ins Reich des Totengottes Pluto bezahlen konnten."
Er sah zu der Gerichtsmedizinerin herüber und sagte jetzt mit fester Stimme: "Es hat zwar nichts mit den isländischen Sagas zu tun, aber ich finde es trotzdem ein schönes Ritual, um von den Toten Abschied zu nehmen."
Ólafur Davídsson richtete sich wieder auf, um dazu überzugehen, den Raum um sich herum zu studieren, der nicht weniger interessant war.
"Er ist bestimmt bei den Mädels in seiner Altersgruppe gut angekommen", meinte Engbers, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen, aber keiner reagierte darauf.
Der Raum war bei genauerer Betrachtung kein gewöhnlicher, sondern ein Kubus, jedenfalls soweit Davídsson das ohne eine exakte Vermessung sagen konnte.
Er arbeitete sich zunächst mit den Augen von einer Wand zur anderen vor und betrachtete ihre Oberflächen, bis er sich schließlich einmal um die eigene Achse gedreht hatte.
Alle Wände schienen den gleichen Flächeninhalt zu haben und sie waren alle aus einem edelstahlähnlichen Material gefertigt worden.
Davídsson tastete jetzt eine der Wände mit den Kunststoffhandschuhen ab, die er sich übergezogen hatte, bevor er den Raum betrat, und die, wenn man der Verpackung Glauben schenken durfte, gefühlsecht waren. Die Oberfläche der Wand war kalt und glatt wie die einer sehr präzise gearbeiteten Stahlplatte oder eines Spiegels - nur gab sie das Licht viel matter zurück, so schwach, dass es nicht reichte, um an der anderen Seite des Würfels reflektiert zu werden.
Er zog seine Hand zurück und betrachtete das Muster, das an den vier Wänden eingearbeitet worden war. Es bestand aus kleinen, höchstens einen Zentimeter hohen Strichen und Kreisen. Soweit Davídsson das erkennen konnte, wiederholte es sich nicht mehr in den darunterliegenden Reihen. Die Zeilen hatten alle den gleichen Abstand und waren genauso weit voneinander entfernt, wie das Muster selbst hoch war.
Er trat einen Schritt näher heran und untersuchte die Wand genauer. Die Vertiefungen schienen mit einem Laser in die Wände graviert worden zu sein. Davídsson bemerkte, dass sie so präzise und so gleichmäßig waren, dass sie unmöglich per Hand angebracht worden sein konnten, und dabei waren die Kanten weder scharf noch ausgefranst.
Er versuchte sich eine Folge des Musters einzuprägen, weil er sich sicher war, dass sie auf den Fotos, die die Spurensicherer davon gemacht hatten, nicht so deutlich zu erkennen waren, wie er sie jetzt sah. Sicher war es durch die Bildbearbeitungssoftware, die das LKA in solchen Fällen einsetzte, möglich, die Konturen wieder sichtbar zu machen, aber er wusste auch, wie lange die KTU dafür brauchen würde - nämlich für seine Zwecke viel zu lange.
Erst jetzt, als er einen Schritt von der Wand zurückgetreten war, die er sich gerade näher angesehen hatte, bemerkte er, dass der gesamte Würfel aus einem Guss zu sein schien. Er konnte auch bei genauerem Hinsehen keine Naht erkennen, die eine Platte mit der anderen verband.
"Das ist ja merkwürdig. Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?", fragte er mit Blick auf Engbers und Bürling.
Beide schüttelten den Kopf.
"Ich wüsste auch nicht, wer so etwas herstellt und was für einen Zweck dieser … Würfel erfüllt", stellte Engbers fest.
"Das müssen wir herausfinden. Haben wir die genauen Maße?" Ólafur Davídsson wandte sich zunächst an Engbers und als der die Schultern zuckte, fragte er den leitenden Sachbearbeiter der Spurensicherung.
Andreas Rach, der sich mittlerweile aus seinem Tyvek-Anzug geschält hatte und nun nicht mehr wie ein Astronaut, sondern wie ein normaler Bürger aussah, zeigte ihm seine Notizen, aus denen hervorging, dass alles gründlich aufgezeichnet und vermessen worden war. Dabei fiel Davídsson auf, dass es drei metallene Bügel gab, die an der Decke des Würfels befestigt waren.
"Was haben wir bisher über das Opfer?", Davídsson widmete den Bügeln an der Decke seine ganze Aufmerksamkeit. Er fragte sich, was für eine Funktion sie in diesem Würfel hatten. War das eine Art Folterkeller?
Engbers musterte die Gerichtsmedizinerin so lange, bis Davídsson den Blick von der Decke nahm und ihn scharf ansah. Engbers zog einen Notizblock aus seiner Hosentasche und blätterte beleidigt darin, bevor er antwortete.
"Er heißt Janik Enzer und ist neunzehn Jahre alt. Laut Pass, den wir in einer Schublade im Wohnzimmer gefunden haben, ist er hundertdreiundachtzig Zentimeter groß und hatte vor gerade einmal vier Tagen Geburtstag. Laut Melderegister wohnt er in diesem edlen Haus alleine. Mehr haben wir noch nicht herausfinden können."
"Ein Neunzehnjähriger in einer Villa am Stadtrand Berlins, in der er alleine wohnt?", wiederholte Bürling langsam mit hochgezogenen Augenbrauen und sprach damit aus, was alle dachten.
"Kann ich mit dem Einsatzleiter vom Kampfmittelräumdienst sprechen? Mich interessiert der Aufbau der Bombe und die Sprengkraft", fragte Davídsson, der sich den Raum noch einmal einzuprägen versuchte.
"Ich gebe dir Morgen die Nummer. Der Typ ist aber nicht besonders kooperativ. Ich habe vorhin, als er noch da war, mein Glück versucht und da hat er nur rumgedruckst."
Engbers steckte das Notizbuch zurück und rieb sich die Hände, was nichts anderes zu bedeuten hatte, als dass er für den Moment genug gesehen hatte und nun gehen wollte.