Mordlast: Ein Ólafur Davídsson Roman

In einem beinahe vergessenen Betongebilde aus Deutschlands düsterster Zeit wird ein Mann im besten Alter ermordet.

Ólafur Davídsson ahnt, dass die Geschichte des Tatorts mit dem Mord in einem Zusammenhang steht. Sein Verdacht wird bestätigt, als sich herausstellt, dass das Opfer ein beispielloses Doppelleben geführt hatte: Ein Leben in der Vergangenheit und das moderne Leben eines Künstlers. Ist das ein Mordmotiv?

Der Fallanalytiker versucht diese Frage zu klären, indem er herauszufinden versucht, in welchem Leben das Opfer seinem Mörder begegnet ist.

Als er zu verstehen beginnt, was es mit dem Doppelleben des Opfers auf sich hat, begeht die Hauptverdächtige Selbstmord in ihrer Zelle und die Suche nach der Wahrheit beginnt erneut im Sumpf der Vergangenheit.

Darum geht es

Ólafur Davídssons erster Fall führt ihn an einen merkwürdigen Ort - ein pilzförmiger Betonklotz neben der Berliner S-Bahn. Obwohl der Fallanalytiker schon einige Jahre in der Hauptstadt lebt, hat er dieses hässliche Ding noch nie wahrgenommen und seine Funktion ist alles andere als offensichtlich.

Die Berliner Polizei ist zunächst nicht besonders begeistert darüber, dass ein Beamter des Bundeskriminalamtes bei den Ermittlungen unterstützen soll, zumal nicht einmal klar ist, ob der Tote ermordet worden ist oder ob er Selbstmord begangen hat. Allerdings handelt es sich bei dem mysteriösen Betonpilz um einen alten Nazi-Bau, den Albert Speer errichten ließ, um die Tragfähigkeit des Bodens zu testen. Die Leiche des Mannes wird in der Messkammer dieses Schwerbelastungskörpers gefunden. Das Bundeskriminalamt ist für die Ermittlungen zuständig und die Berliner Polizei muss wohl oder übel mit dem Fallanalytiker zusammenarbeiten.

Bald stellt sich heraus, dass der Tote erstickt worden ist. Als Davídsson die Wohnung des Opfers durchsucht, fühlt er sich wie in eine düstere Vergangenheit zurückversetzt. Die ganze Einrichtung stammt der Nazizeit. Selbst das Radio ist ein originaler Volksempfänger. Dem Fallanalytiker fällt es unter diesen Bedingungen schwer, ein Täterprofil zu erstellen. Der offensichtliche Ermittlungsansatz - ein politisch motivierter Mord - stellt sich nämlich schnell als kalte Spur heraus. Das Opfer war kein Nazi und wurde ganz offensichtlich nicht von einem Profi ermordet. Was war also das Motiv für den Mord und warum wurde ausgerechnet dieser Ort dafür ausgewählt? Davídssons Ermittlungen enthüllen ein anderes dunkles Geheimnis...

»Jedes Gebäude erzählt eine Geschichte, aber diese ist die spannenste ...«

Leseprobe

 

Es war der Regen, über den sie sich unterhielten. Das Wetter war ein beliebtes Thema und konnte für alles herhalten - für Kopfschmerzen, für schlechte Laune und eine Depression, und natürlich war es schuld daran, dass die Pflanzen vertrockneten oder wenn sie im Wasser ersoffen.

Ólafur Davídsson hatte nur die Wortfetzen gehört, und es hatte ihm gereicht.

Er hasste diese banale Art der Kommunikation. Wenn die Menschen sich nichts anderes zu sagen hatten, und er fand es ermüdend, ihnen dabei zuzuhören. Dauerregen gab es schon, als es noch keine Menschen gab, und die Natur ist damit bisher immer bestens klargekommen, dachte er, als er sich von ihnen wegbewegte, um außer Hörweite zu sein.

Er aß die Currywurst in seinem Saab 9-3 Cabriolet und beobachtete dabei durch die Windschutzscheibe, wie sie sich weiter über das Wetter unterhielten.

Eigentlich hätte er gerne im Freien gegessen und er überlegte, ob er das Verdeck öffnen sollte, ließ es aber sein. Für einen Moment hatte es aufgehört zu regnen. Für eine Fahrt ohne Dach war es aber noch zu kalt und es nur für diesen kurzen Moment zu öffnen, war ihm zu umständlich. Davídsson schaltete das Gebläse ein und versorgte sich auf diese Weise mit der frischen Luft, die der Regen vom Staub gereinigt hatte.

Als er den letzten Bissen nahm, ging auch die Frau, die nur das Wetter als Gesprächsthema kannte, von seinem Lieblingsstand. Dort gab es die beste Currywurst in der ganzen Stadt. Mit viel Curry und scharf, wie er es mochte. Die Frau kam an seinem Wagen vorbei, beachtete ihn jedoch nicht.

Zu der Verkäuferin hinter der Theke hatte er eine Art Beziehung aufgebaut. Sie kannten sich ein paar Jahre, und lange Zeit waren es nur die üblichen Worte gewesen, die sie gewechselt hatten:

"Eine Currywurst mit Pommes, scharf und viel Curry bitte ... Nein, keine Mayo auf den Pommes."

Aber mit der Zeit hatte sie sich die Wünsche ihres Kunden gemerkt und sie konnten, sich über andere Dinge unterhalten. Er wusste einiges über sie und sie über ihn.

Sie wusste, dass er Fallanalytiker war und er, dass sie den Stand seit mehr als dreißig Jahren hatte. Sie wusste, dass er Isländer war und er, dass sie und ihr Mann schon seit Generationen in Ost-Berlin gelebt hatten, bis die Mauer gefallen war.

Mittlerweile hatte er das besondere Privileg, bei ihr anrufen zu können, und sie bereitete dann alles vor, sodass er direkt essen konnte, wenn er ankam.

Sie hatten ein gutes Timing erreicht.

Die Currywurst war noch warm und die Pommes knackig frisch, wenn er an ihrem Stand ankam. In den Abendstunden stand daneben ein kühles Bier, auf das er sich den ganzen Tag freute. Heute war es dafür noch zu früh. Er stellte das weiße Plastikschälchen in den Fußraum des Beifahrersitzes und stellte den Motor an. Die Uhr im Display zeigte neun.

Er hatte noch den Weg durch die halbe Stadt vor sich, bis er in seinem Büro in Treptow sitzen würde, aber das war zurzeit kein Problem. Er hatte viele Überstunden angesammelt und momentan keinen Fall, den es zu lösen gab. Sein Chef erwartete ihn zu keiner Besprechung und seine Kollegen waren in ganz Deutschland unterwegs.

Ihm graute schon davor. Er hasste Tage, an denen er nichts zu tun hatte. Sie zogen sich in die Länge wie ein geschmacklos gewordenes Kaugummi, das man schon viel zu lange im Mund hatte.

Gerade, als er die Schranke zum BKA-Gelände passieren wollte, klingelte sein Handy. Er nahm das Gespräch über die Freisprecheinrichtung seines Saabs entgegen. Es war sein Vorgesetzter.

"Ich habe da etwas für Sie. Wo stecken Sie gerade?"

"An der Zufahrt." Davídsson schaltete den Motor aus. Er beobachtete, wie der Pförtner ihn argwöhnisch durch das große Fenster musterte, bis er ihn erkannte. Er winkte Ólafur Davídsson ein paarmal zu, um dann wieder hinter seinem Computer zu verschwinden. Was für ein langweiliger Job, dachte Ólafur Davídsson.

"Wahrscheinlich handelt es sich um ein politisch motiviertes Verbrechen. Das LKA 1 hat uns deshalb eingeschaltet."

"Wo und wann?"

"General-Pape-Straße Ecke Loewenhardtdamm in Tegel. Sie sollten sofort dorthin fahren."

"Haben wir eine Hausnummer?" Davídsson sah im Rückspiegel, wie sich ein anderes Fahrzeug näherte.

"Nein. Es ist ein spezielles Bauwerk, kein Wohnhaus."

Davídsson startete den Motor und machte dem anderen Wagen Platz.

"Sonst noch irgendwelche Infos?"

"Nein. Nichts."

Er drehte seinen schwarzen Saab 9-3 und folgte der Straße ›Am Treptower Park‹ Richtung Tegel.

An der nächsten Ampel, an der er anhalten musste, sah er, was passiert war. Während des Wendemanövers war die Schale mit dem Ketchup umgekippt. Die rote klebrige Masse hatte sich während der Fahrt im ganzen Fußraum verteilt. Er fluchte laut, während er an der nächsten Tankstelle anhielt und die Flecken mit ein paar Papiertüchern beseitigte. Der Geruch nach Curry und Ketchup würde ihm allerdings noch einige Tage erhalten bleiben.

Ich muss den Wagen heute Abend unbedingt waschen, dachte er, als er sich wieder in den Stadtverkehr einfädelte.

Wenn er jetzt zu viel Zeit verstreichen ließ, konnte das erhebliche Folgen für seine Arbeit haben. Er hatte schon oft erlebt, dass ein übereifriger Kommissar bereits alle Spuren beseitigen ließ, bevor er am Tatort eintraf. Damit konnte er sich praktisch kein eigenes Bild machen, sondern musste sich auf ein paar Tatortfotos und den Bericht verlassen.

Meistens musste jedoch irgendein Anfänger diese Tatortberichte schreiben, die dann im Stakkatostil völlig unbrauchbare Beschreibungen lieferten.

Ólafur Davídsson beschleunigte seinen Saab. Er hatte schon genug Zeit verloren.

 

Der Fallanalytiker hielt endlich vor dem grauen Betonklotz. Er war mehrmals daran vorbeigefahren, ohne ihn zu sehen. Er war zweimal bis ans Ende der General-Pape-Straße gefahren, vorbei am S-Bahnhof ›Südkreuz‹, bis er auf einer Kreuzung stand und der Straßenname verschwunden war. Irgendwann hatte er bei einer Spedition in einem Hinterhof nach dem Schwerbelastungskörper gefragt. Der grauhaarige Mann mit dem Gesichtsausdruck eines Clowns hatte ihn nur fragend angesehen.

Er wusste selbst nichts über das Bauwerk, das er suchte, und hatte es daher nicht umschreiben können. Der Mann hatte ihm schließlich gesagt, dass es einen Betonklotz am Anfang der Straße gab.

Davídsson war noch einmal zurück an den Anfang der General-Pape-Straße gefahren und stand jetzt vor einem pilzförmigen Gebäude aus Beton.

Das muss es sein, dachte er, obwohl er nirgendwo ein anderes Auto entdecken konnte, das zum Ermittlungsteam gehören konnte. Er sah keine Polizeiwagen, keine stummen Blaulichter und keinen Lieferwagen der Spurensicherung. Aber er konnte unmöglich der Erste am Tatort sein.

Das Areal war weiträumig mit einem neuen Militärzaun abgeschirmt. Auf der anderen Seite des Metallzauns hinter einem Tor stand ein Schild: ›Zutritt für Unbefugte verboten‹. Er betätigte die Klinke und die Tür glitt nahezu geräuschlos zur Seite.

Erst als er sich dem Klotz näherte, der jetzt einen riesigen Schatten auf ihn warf, hörte er Stimmen. Er konnte nur einzelne Worte verstehen, aber nicht deren Sinn.

Der Boden war grau und matschig von den Regengüssen der letzten Tage. Er ärgerte sich, dass er seine teuren Schuhe anhatte, die er sich gerade erst vor einem Tag gekauft hatte. Schwarze Ledersneakers.

Er ging an einer Grube vorbei, in der drei Betonquader lagen. Es sah beinahe so aus, als seien sie einfach so vom Himmel heruntergefallen. Jedenfalls konnte sich Ólafur Davídsson den Sinn dieser Betonbrocken nicht erklären, genauso wenig wie den dieses Bauwerks.

Davídsson ging über einen schmalen befestigten Weg zu der einzigen Tür, die in das Innere des Pilzes führte. Jetzt hörte er die typischen Geräusche eines Tatortes. Er hörte das Piepen einer Digitalkamera, bevor sie auslöste, und die Schuhe der Spurensicherer, über die sie Plastiküberzieher gestülpt hatten, um keine eigenen Fußspuren zu hinterlassen. Es war ein ganz eigenes Geräusch, wenn man damit über den Boden lief. Ein leichtes Knistern oder Rascheln.

Die Metalltür gab nicht nach, als er sie öffnen wollte. Sie war großflächig mit Rost überzogen, wirkte aber trotzdem noch sehr stabil, und das Schloss war das einer modernen Schließanlage.

"Sie müssen durch das Fenster hereinklettern", hörte er eine Stimme durch die Tür. Sie klang verzerrt, aber Davídsson konnte es trotzdem verstehen.

Er kletterte eine kleine matschige Anhöhe herauf und sah dann Löcher in einer gemauerten Wand. Hier waren einmal Fenster gewesen, jetzt gab es nur noch ausgerissene Reste davon, an denen man erkennen konnte, dass es auch einmal Gitterstäbe gegeben haben musste.

Ólafur Davídsson sah die Männer in ihren Schutzanzügen. Sie standen in einer Ecke des Raumes und schienen mit ihrer Arbeit fertig zu sein. Er duckte sich unter dem Mauerwerk hindurch auf einen Tisch, von dem er dann in den Raum sprang.

"Wer sind Sie?" Der Mann sah aus wie ein Mondmensch in dem weißen Schutzanzug.

"Ólafur Davídsson, Fallanalytiker vom BKA." Er wollte seinen Ausweis aus der Manteltasche ziehen, aber sein Gegenüber winkte ab.

"Andreas Rach. Ich bin der Leitende Sachbearbeiter der Spurensicherung. Wie kommt es, dass sich das BKA für das hier interessiert?"

"Es könnte sich um eine politisch motivierte Straftat handeln", wiederholte Davídsson die Worte seines Chefs. Er wusste nicht einmal, um was für eine Straftat es sich hier handelte. In den meisten Fällen waren es jedoch Morde, zu denen er hinzugezogen wurde.

Rach nickte. "Er liegt da hinten in der anderen Kammer. Wir sind gerade fertig geworden. Die Gerichtsmedizin ist noch an ihm dran."

Davídsson überlegte, ob er sich erst in diesem Raum umsehen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Er ging ein paar Stufen nach oben und dann durch einen breiten Tunnel. Hier war es kühler und feuchter, aber die Luft roch nicht nach Schimmel. Er zog ganz automatisch den Mantel am Kragen zusammen.

Der zweite Raum war wesentlich kleiner als der andere. Es war eher eine Kammer mit verrosteten Halterungen an den nackten Betonwänden, deren Nutzen Davídsson nicht kannte.

In der Mitte lag das Opfer.

Der Pathologe beugte sich über den Mann. Zwei uniformierte Polizisten standen in einer Ecke vor einem offenen Sicherungskasten.

"Achtung! Die Stange!", brüllte einer der beiden, aber es war zu spät.

Davídsson war bereits mit dem rechten Fuß hängen geblieben und konnte gerade noch das Gleichgewicht zurückgewinnen.

Der Uniformierte grinste. "Wir sind alle darüber gestolpert." Er hatte einen breiten Stiernacken, der aus dem Hemdkragen quoll.

Er sieht aus wie ein Zuchtbulle oder ein Terrier, dachte Davídsson, während er ihm die Hand schüttelte. Seine Kollegin war das genaue Gegenteil: schmächtig, mit einem zierlichen Hals, um den sich eine enge Silberkette schmiegte. Sie gab ihm ebenfalls die Hand, ohne sich vorzustellen.

Der Gerichtsmediziner war wesentlich älter als der Zuchtbulle und seine Partnerin und älter als Davídsson. Er schätzte ihn auf Mitte sechzig. Er nickte nur, als sich Davídsson zu dem Opfer hinunterbeugte.

Der Tote war auch älter als Davídsson. Aber nicht viel. Vielleicht vierzig, eher ein paar wenige Jahre älter. Seine Augen waren aus den Höhlen hervorgequollen. Ein rosa Bademantelgürtel hing dem Opfer schlaff um den Hals. Die beiden Hände hatten offensichtlich die Enden festgehalten, lagen jetzt aber links und rechts von seinem Kopf.

"Er ist erstickt?" Davídsson war neben dem Pathologen in die Hocke gegangen.

"Wahrscheinlich Selbstmord." Seine dunkle Stimme hallte von den kahlen Wänden.

Der Tote hatte einen dunkelgrünen Kutschermantel um, der jetzt halb offen einen Blick auf ein kariertes Hemd und eine Boss-Jeans freigab. In unmittelbarer Nähe seines Kopfes lag eine rot-braune Kunststoffbrille. Davídsson betrachtete die kreisrunden Gläser. Sei waren noch intakt. Er konnte nur die üblichen Gebrauchsspuren daran sehen. Leichte Kratzer auf der Oberfläche, die vom Putzen stammen konnten.

Davídssons Blick glitt zu den Schuhen des Opfers. Sie sahen gepflegt aus, aber ebenfalls nicht mehr neu. An der rechten Sohle sah er Abriebspuren, die von einem Gehfehler stammen konnten.

"Oder Mord", sagte er schließlich, obwohl er noch keinen Anhaltspunkt dafür gefunden hatte.

"Sie kenne ich noch nicht. Sind Sie neu beim LKA 1?"

"Ich bin vom BKA. Fallanalytiker. Man sagte mir, es könnte sich um eine politische Straftat handeln?"

Der Gerichtsmediziner sah ihn überrascht an.

"Es sieht ganz nach einem Selbstmord aus. Wer hat Ihnen denn den Quatsch erzählt?"

Bevor Ólafur Davídsson antworten konnte, betrat ein weiterer Mann die Kammer. Er wirkte angespannt.

"Alle, die nichts mit der Gerichtsmedizin zu tun haben, verlassen sofort den Raum", befahl er, ohne sich den Anwesenden zuzuwenden.

Die beiden uniformierten Polizisten gehorchten. Davídsson sah keine Veranlassung, es ihnen gleich zu tun.

"Das gilt auch für den Lackaffen im Christian Dioranzug, oder sind Sie von der Gerichtsmedizin?" Der Mann mit dem breiten Gesicht und den kurzen lockigen Haaren sah ihn an. Davídsson sah, dass er breite Lachfalten um den Mund hatte.

Anscheinend ist ihm der Humor heute verloren gegangen, dachte er und richtete sich auf. Er war ein gutes Stück größer als sein Gegenüber.

"Ólafur Davídsson. Kriminalanalytiker beim Bundeskriminalamt. Der Anzug ist übrigens von Emporio Armani", entgegnete er ruhig, ohne dabei provokativ zu werden.

"Raus!"

Davídsson sah, dass er es ernst meinte, aber er blieb stehen. Der Gerichtsmediziner erhob sich jetzt ebenfalls und machte einen Schritt zwischen Davídsson und den anderen.

"Engbers, jetzt komm mal wieder runter. Hast du nicht gehört? Er ist vom BKA. Er darf hier sein."

Der Angesprochene grummelte etwas Unverständliches und beugte sich zum Opfer hinunter, ohne Ólafur Davídsson weiter zu beachten.

"Was haben wir?"

"Sieht aus wie Selbstmord. Er ist erst ein paar Stunden tot."

"Geht das auch genauer?" Engbers griff wie aus einem Automatismus heraus an seine Hemdtasche.

Davídsson sah eine kleine leere Ausbuchtung, wo sich vor Kurzem noch eine Zigarettenpackung befunden haben musste.

"Nach der Obduktion", der Gerichtsmediziner machte einen Satz nach oben. "Er kann abtransportiert werden, wenn die Spurensicherung einverstanden ist."

"Wir sind fertig hier", sagte Rach, der die ganze Zeit über unbemerkt von Engbers und Davídsson in dem Gang gestanden hatte, um alles mit anzusehen. Auch die anderen Männer der Spurensicherung standen da.

"Dann soll der Leichenwagen jetzt kommen. Hat ihn schon jemand gerufen?", fragte Engbers in Richtung seiner uniformierten Kollegen.

"Wir haben gewartet, bis …"

"Scheiße. Ihr solltet lieber den Verkehr regeln, als an einem Tatort herumzutrampeln." Engbers Augen funkelten, aber der bullige Polizist blieb ruhig. Er zog ein Handy aus der Uniform und bestellte einen Leichenwagen, während Engbers sich zwischen den Kollegen hindurch in den größeren Raum drängte.

"Er hat erst vor Kurzem aufgehört zu rauchen", sagte der Gerichtsmediziner.

"Wer hat das Opfer überhaupt gefunden?" Davídsson sah in die Runde. Eigentlich sollte der ermittelnde Kommissar diese Fragen beantworten.

"Ein Mitarbeiter vom Bezirksamt. Er sitzt in unserem Bus hinter dem Ding hier. Eine Kollegin passt auf ihn auf. Er hat wohl noch nie eine Leiche gesehen", antwortete Rach.

"Und was wissen wir über das Opfer?" Der Fallanalytiker ging wieder in die Hocke und musterte aus dieser Perspektive den Raum.

An zwei Wänden waren große kreisrunde Löcher, aus denen ein schwacher Windzug kam. Vor einem der Löcher lagen Holzstücke auf dem Boden. An der hinteren Wand gab es ein rechteckiges Podest, auf dem eine Metallschale mit einem blauen Rand stand. Davídsson erkannte einen Schriftzug, der mit einem schwarzen Stift auf den weißen Grund gemalt worden war. 435a. Daneben lagen ein paar alte, verrostete Bolzen, die einen Durchmesser von mindestens fünf Zentimetern hatten.

"Was ist das hier überhaupt?", fragte Davídsson, nachdem ihm auf seine letzte Frage niemand geantwortet hatte.

"Der Raum hier, oder das … Ding?" Rach hatte sich neben die Stange gestellt, die bei genauerem Hinsehen eher ein T-Pfosten war, der etwa knietief aus dem Boden ragte.

"Beides."

"Das Ding ist der sogenannte Schwerbelastungskörper. Was das nun wieder ist, weiß ich auch nicht so genau. Ich habe nur irgendwann einmal in der Zeitung gelesen, dass er von den Nazis gebaut worden ist. Welche Funktion der Raum hier hat, weiß ich leider auch nicht." Es sah beinahe so aus, als ob Rach den Pfosten bewachen würde.

Davídsson zog aus der Innentasche seines Sakkos zwei Zehn-Krónur-Münzen und legte sie beide mit der Seite, die die vier Kapelane zeigten, auf die Stirn des Toten.

"Hey, was machen Sie da?", fragte Engbers, der in diesem Moment wieder den Raum betrat.

Davídsson hatte nicht vor, es ihm zu erklären. Er hatte während seiner Schulzeit in Reykjavík von diesem Brauch gelesen und seither war er von der griechischen Mythologie fasziniert. Es war nicht so, dass er an ihre Bedeutung glaubte, aber trotzdem war es eine gute Art, von einem Toten Abschied zu nehmen.

Es war seine Art, Abschied zu nehmen.

Als sein Vater auf dem Fossvogskirkjugarður beerdigt worden war, hatte er zum ersten Mal von diesem Ritual Gebrauch gemacht. Es war das erste Mal gewesen, dass er mit dem Tod konfrontiert worden war. Das erste Mal, dass er eine Leiche gesehen hatte, sie berührt hatte und verstanden hatte, dass das ein unwiderrufliches Ende bedeutete. Für ihn, für seine beiden Geschwister und für seine Mutter. Seither bedeutete dieses Ritual für ihn, den Toten nicht einfach wie eine Sache zu betrachten. Wie einen weiteren Arbeitsauftrag oder die Tagebuchnummer eines Falls.

Für diesen Moment machte er sich klar, dass es hierbei um mehr ging. Um einen Menschen und um damit verbundene Schicksale.

"Es ist meine Art, von den Toten Abschied zu nehmen", sagte er und richtete sich wieder auf.

Engbers nahm die beiden Münzen an sich und steckte sie in seine Hosentasche.

"Nachdem jetzt auch der werte Herr vom BKA seine seltsamen Spielchen treiben konnte, möchte ich wissen, wer der Tote ist."

"Wir wissen noch nicht viel mehr über das Opfer, als der Inhalt seines Portemonnaies hergibt. Er hieß Bernd Propstmeyer, er war fünfundvierzig Jahre alt, einen Meter fünfundachtzig groß. Augenfarbe …"

"Falls es jemand noch nicht bemerkt hat: Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt", schnauzte Engbers den Terrier in Uniform an.

Der Mann zuckte zusammen, obwohl er Engbers sicher spielend leicht fertigmachen konnte.

"Gibt es noch etwas, was ich wissen muss, bevor ich wieder in mein Büro fahren kann?"

"Eine Selbststrangulation ist eine sehr seltene Form des Suizids", sagte der Gerichtsmediziner, der anscheinend keine Probleme damit hatte, mit Engbers Launen umzugehen.

"Aber deine Obduktion wird doch sicher klären, ob es ein Suizid war oder nicht." Engbers sah den Pathologen an, der daraufhin leicht nickte.

"Gut. Dann gehe ich jetzt."

"Haben Sie schon mit dem Mann gesprochen, der das Opfer gefunden hat?", fragte der Fallanalytiker.

"Stellen Sie sich das Mal vor. Deshalb kam ich hier als Letzter rein."

"Ich will den Mann sprechen. Jetzt gleich."

"Tun Sie sich keinen Zwang an."

Über Alexander Guzewicz

Alexander Guzewicz ist in der Nähe von Heidelberg aufgewachsen und hat dort eine juristische Ausbildung beim Land Baden-Württemberg absolviert. Er hat schon sehr früh, im Alter von fünfzehn Jahren, mit dem Schreiben begonnen. Alexander Guzewicz lebt und arbeitet heute in Berlin.

Lesen Sie das Interview mit Alexander Guzewicz

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